Aus meiner persönlichen Bibliothek

Buch Cover

Thomas Meyer, Karl - Heinz Klär, Susanne Miller, Klaus Novy, Heinz Timmermann: Lexikon des Sozialismus

bund; Köln, 1986

Autoren: Susanne Miller Thomas Meyer Heinz Timmermann Karl-Heinz Klär Klaus Novy

Schlagworte: Gesamtübersichten / Lexika Links / Sozialismus

Zitate

Max Adler

Adler, Max, 1873/Wien - 1937/Wien, 1919 - 21 Abgeordneter zum niederösterreichischen Landtag. Als 1904 in Wien A.s Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft als erster Band der Marx - Studien erschien, konnte niemand wissen, daß diese Reihe, herausgegeben von A. und Hilferding, zum ersten Kristallisationspunkt des Austromarxismus werden sollte, dessen Richtung A. in stärkerem Maße mitbestimmte, als es seiner organisatorischen Stellung innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie (SPÖ) entsprach. A. war 1896 Rechtsanwalt geworden und verdiente seinen Lebensunterhalt in einer Praxis für kleine Leute. In der Partei war er vornehmlich Lehrer. 1903 gründete er gemeinsam mit Bauer, Renner und Hilferding den Verein Die Zukunft, die erste Wiener Arbeiterschule. Bis zum Weltkrieg blieb A. wenig einflußreich, erst 1918 konnte er direkt ins politische Geschehen eingreifen. In der österreichischen Revolution bejahte er zwar prinzipiell den Einsatz von Gewalt, wies ihre Verwendung in der aktuellen Situation jedoch zurück. Als Schöpfer des Begriffs der »Einheitsfront« (und später des »Dritten Wegs«) verkörperte er auch persönlich die Mittlerposition in der Arbeiterbewegung durch seine wichtige Stellung in der Rätebewegung bei gleichzeitiger Ausübung eines Abgeordnetenmandats im niederösterreichischen Landtag. Nach der revolutionären Periode zog sich A. aus den Entscheidungsgremien der Partei zurück und unterrichtete an der Kinderfreundeschule in Schönbrunn und an der Arbeiterhochschule. Der Titel seines Buches Neue Menschen wurde zum Synonym für die austromarxistische Kulturpolitik. 1919 hatte Sich A. an der Wiener Universität habilitiert und erhielt 1921 den Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors.
Seine Lehrtätigkeit an der Universität konnte er auch nach 1934 fortsetzen. In der Programmdiskussion von 1926 (Programme der österreichischen Sozialdemokratie) war A. ein vehementer Verfechter der linken Kritik am Entwurf. Er versuchte, wenn auch vergeblich, im Abschnitt Der Kampf um die Staatsmacht den Begriff der Diktatur des Proletariats zu verankern, da er zwischen Diktatur und Demokratie (verstanden als bloße Rechtsgleichheit) im Klassenstaat keinen prinzipiellen Widerspruch erkennen konnte. Nach den blutigen Ereignissen vom 15. Juli 1927 versuchte A., eine linkssozialistische Position zu formulieren und nahm von 1929 bis 1931 auch an der Tätigkeit der Opposition in der SPD Anteil. Am Aufstand der österreichischen Arbeiter im Februar 1934 beteiligte er sich nicht, wurde gleichwohl einige Zeit inhaftiert. Zum Thema Faschismus hat er sich nicht geäußert.
Philosophisch lautete A.s Motto »Mit Kant über Kant hinaus«. Es ging ihm um die Versöhnung von Idealismus und Marxismus, da er einerseits im philosophischen Materialismus einen grundlegenden Irrtum des Marxismus erblickte, andererseits aber den Sozialbezug der Kantschen Erkenntniskritik verstärkt sehen wollte. Von dieser Position aus gelangte er zu entscheidender Kritik an der marxistischen Geschichtsauffassung, zu einer starken Bewertung der Bewußtseinsfaktoren, einem Akzeptieren der Religion und zu einer Neuinterpretation von Dialektik.
In die Sozialdemokratie aber fanden A.s wissenschaftstheoretische Positionen nie wirklich Eingang.

Victor Adler

Adler, Victor, 1852/Prag - 1918/Wien, 1889 - 1918 Vorsitzender der österreichischen Sozialdemokratie (SPÖ), 1905—18 Abgeordneter zum österreichischen Reichsrat, 1918 Außenminister. A., von Beruf Arzt, die bekannteste Persönlichkeit aus der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, zählte in seiner Jugend zu den Deutschnationalen, in deren Linzer Programm von 1882 er den sozialpolitischen Teil verantwortete. Der zunehmende Antisemitismus dieser Bewegung und ein geplanter Wechsel im Beruf (vom Armenarzt zum Gewerbeinspektor), der mit Reisen nach Westeuropa und Kontakten zu Engels und Bebel verbunden war, brachten A. zur gespaltenen Arbeiterbewegung. Er gründete 1886 die Wochenzeitschrift Gleichheit, mit der er die Einigung zwischen den »Gemäßigten« und »Radikalen« vorantrieb. Zum Jahreswechsel 1888/89 gelang es ihm auf dem Hainfelder Parteitag, die Bewegung zu einigen und ihr ein marxistisches Programm zu geben (Programme der österreichischen Sozialdemokratie).
A. gehörte in der II. Internationale zu den einflußreichsten Persönlichkeiten. Politisch dem Zentrismus zuzurechnen, war er um Ausgleich und Einheit bemüht und versuchte, in der Revisionismusdebatte Bernsteins Position als Anregung zu begreifen. 1901 wurde unter A.s Federführung das Hainfelder Programm modifiziert, wobei man Sich verbal vom Revisionismus distanzierte, inhaltlich jedoch einige seiner Positionen in das neue Wiener Programm einfließen ließ.
In Österreich war A. für den Aufbau einer sozialdemokratischen Massenbewegung verantwortlich, der Sich im Gleichschritt mit der Entwicklung der von A. Hueber geführten Gewerkschaftsbewegung (»siamesische Zwillinge«) vollzog. Politische Hauptaufgabe war die Erringung des allgemeinen Wahlrechts, zu dessen Durchsetzung auch der Massenstreik in Erwägung gezogen wurde. A. zögerte mit dem Einsatz eines politischen Massenstreiks, verstand es aber, dessen Androhung politisch wirksam einzusetzen. 1896 erreichte die Partei die Einrichtung einer allgemeinen Wählerkuriey die den Einzug der ersten Sozialdemokraten ins Parlament ermöglichte. A. selbst kam erst 1905 über die Nachwahl in einem böhmischen Wahlkreis ins Parlament. Ein Generalstreik am 28. Oktober 1905 führte schließlich zur Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechtes für Männer über 24 Jahre (die Ereignisse in Rußland hatten ihren Teil zur Entwicklung beigetragen). 1907 zog A. an der Spitze von 72 Sozialdemokraten in den neuen Reichstag ein. Diesen Erfolgen steht der Mißerfolg in der Lösung der nationalen Frage im Vielvölkerstaat gegenüber. A., selbst eher deutschnational geprägt, folgte hier rückhaltlos den Vorstellungen Kautskys. Er konnte den Zerfall der Partei wie der Gewerkschaften in nationale Gruppen nicht verhindern. Mit der Herausbildung des Austromarxismus um 1907 überließ er die Aufarbeitung dieses Fragenkomplexes einer jüngeren Generation.
1914 stellte Sich A., trotz seiner bedeutenden Arbeit für den Frieden auf den Kongressen der II. Internationale nicht gegen den Krieg. Er hing freilich an der Einheit der Partei und machte daher deren Umschwung zu einer eher kriegsgegnerischen Haltung mit. So blieb 1917, anders als in Deutschland, die Parteispaltung aus. Für wenige Tage konnte A. in der jungen Republik noch das Amt des Außenministers bekleiden, ehe er am 11. November 1918 starb.

Esperanto / Kunstsprachen / Welthilfssprachen

Arbeiter - Esperanto. Die Kunstsprache Esperanto versteht Sich als leicht erlernbares, völkerverbindendes Verständigungsmittel, basierend vor allem auf romanischen und englischen Elementen; die Grammatik kennt nur 16 ausnahmslose Grundregeln. Ihr Schöpfer, der jüdische Arzt L.L. Zamenhof aus Bialystok, gab 1887 unter dem Pseudonym Dr. Esperanto das erste Regelwerk heraus. Bald bildeten Sich in Rußland und Deutschland bürgerlich - pazifistische, ansonsten politisch neutrale Esperanto - Clubs. Von Schweden (1903) und Deutschland (1905) aus breitete sich international die A. - Bewegung aus. Der I. Weltkrieg bremste die Entwicklung und verhinderte zunächst einen internationalen Zusammenschluß, doch 1921 gründete sich die übernationale proletarische Esperanto - Welt - Organisation Sennacieca Asocio Tutmonda (SAT). Die deutsche Organisation (Arbeiter - Esperanto - Liga (1910)1; Deutscher Arbeiter - Esperanto - Bund (GLEA, 1911); Deutscher Arbeiter - Esperanto - Bund für deutsche Sprachgebiete (LEAG, 1922)) war bis zur Spaltung auch anderer Arbeiterkulturorganisationen gegen Ende der Weimarer Republik — grundsätzlich überparteilich eingestellt, doch der Arbeiterbewegung verpflichtet. Während der Weimarer Republik wurde Esperanto u.a. von den Naturfreunden, den Freidenkern und den Arbeitersportlern (u. a. bei Arbeiterolympiaden und - spartakiaden) genutzt und verbreitet. Esranto drang auch in den literarischen Bereich Übersetzungen aus der Weltliteratur, Eigenschöpfungen); ferner war es Grundlage für die bedeutende internationale proletarische Korrespondentenbewegung (u. a. in der Arbeiter - Illustrierten - Zeitung AIZ). Die Nationalsozialisten verboten die Esperanto - Bewegung und verfolgten ihre Anhänger aus der Arbeiterschaft, von denen viele Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten, so auch im Spanischen Bürgerkrieg. Nach 1945 bildeten sich auf deutschem Gebiet wieder lokale A. Gruppen, doch ihre Entwicklung war unterschiedlich (Stalin - Verdikt gegen Kunstsprachengruppen in den östlichen, geringe Resonanz in den westlichen Gebieten) und ihre politische Orientierung weitgehend neutral. 1955 schloß man sich dem universalen Esperanto - Bund an, von dem sich aber ein Jahr später ein Teil abspaltete und sich als Libera Esperanto - Asocio (LEA) der alten und wie früher der Arbeiterbewegung verbundenen SAT angliederte.

Otto Bauer

Bauer, Otto, 1881/Wien—1938/Paris, Sohn eines Textilfabrikanten, befaßt sich schon als Schüler mit Marx und Engels, tritt während des Studiums der Wiener Freien Vereinigung Sozialistischer Studenten und dem Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein bei, wo auch Renner, Hilferding, F. Adler, G. Eckstein, M. Adler und Trotzki Mitglieder sind. 1906 zum Doktor der Rechte promoviert, übernimmt B. 1907 das Sekretariat der sozialdemokratischen Reichsratsfraktion, wird Redakteur der Arbeiter - Zeitung und Chefredakteur des Theorie - Organs Der Kampf. Ebenfalls 1907 veröffentlicht B. Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, eine Studie, die ihn auf einen Schlag in der II. Internationale bekannt macht. 1914 Soldat, gerät B. in russische Gefangenschaft, kommt 1917 frei, agiert, wieder in Wien, gegen den Krieg und die Politik Renners, der die k. u. k. Monarchie, jedenfalls das alte Reich, reformieren und bewahren will, während B. den Zusammenbruch voraussieht und die Revolution vor Augen hat. Als diese kommt, wird B. für kurze Zeit Staatssekretär des Äußeren und Leiter der Sozialisierungskommission. 1919 übernimmt er den Vorsitz der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, den er bis Februar 1934 innehat. Als 1920 die Koalitionsregierung endet, gewinnt für B. zentrale Bedeutung, was er 1924 systematisch analysiert: Der Kampf um die Macht; denn die gesellschaftliche Transformation ist für ihn an Eroberung und Gebrauch der Staatsmacht gekoppelt. Für die Nachkriegsphase nimmt er dabei einen »zeitweiligen Gleichgewichtszustand« zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Stadt und Land an. In Form des Votums für »integralen Sozialismus« einer einigen Arbeiterbewegung gehen die Ergebnisse seiner Bolschewismusstudien in diese Politikanalyse ein. Hauptbestandteil des (Wahl - )Kampfes um die »Macht im Staat« sind die Demokratisierung der Exekutivorgane (besonders Armee, Polizei, Verwaltung) und die Erringung der »Hegemonie des Proletariats« — nicht zuletzt durch die Konsolidierung des sozialdemokratischen Exempels im »Roten Wien«. An B.s Analyse des Kampfes um Staatsmacht und Hegemonie schließt 1926 der Linzer Parteitag der SPÖ an.
B. gilt als geistiger Vater des Linzer Programms der Partei (Programme der österreichischen Sozialdemokratie), die hierin und bei den Frühjahrswahlen 1927 einen Höhepunkt erreicht. Nach dem spontanen Protest der Wiener Arbeiter im Juli 1927, der beim Sturm auf den Justizpalast 89 Tote fordert und die Sozialdemokratie ein »Opfer an Prestige« kostet, beginnt bald eine Phase des latenten Bürgerkriegs, in dem es nach der Verfassungsreform von 1929 um nicht weniger als die Verteidigung der Republik geht.
Ihr gilt vom 12. bis 15. Februar 1934 der bewaffnete Widerstand des sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbundes gegen die Provokationen der bürgerlich - bäuerlichen Koalitionsregierung Dollfuß, die im März 1933 per Staatsstreich das Parlament entmachtet hatte. B. befürwortet den »heroischen Kampf«, übernimmt zusammen mit J. Deutsch die allerdings wenig effektive zentrale Leitung und flüchtet unmittelbar nach der Niederlage in die Tschechoslowakei.
Dort redigiert er weiterhin Kampf und Arbeiter Zeitung und verfaßt insbesondere selbstkritische Analysen über die sozialdemokratische Politik in der Weltwirtschaftskrise. Unter dem Eindruck des Faschismus und der die Arbeiterbewegung lähmenden Auswirkung von Rationalisierung (Dequalifizierung) und Krise (langfristige Arbeitslosigkeit) erkennt B., »wie schwer es ist, eine auf legale Aktion im Rahmen der bürgerlichen Demokratie eingestellte, ihr angepaßte Partei mit einem Schlage auf eine revolutionäre Aktion umzustellen«. Wie in seiner - posthum veröffentlichten — Studie Die illegale Partei begründet, versteht B. das Brünner Exil - und Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie, in dem er arbeitet, nicht als Exilvorstand. Dem Zentralkomitee der Revolutionären Sozialisten Österreichs, d. i. der illegal im Lande arbeitenden neuen Partei, »entstanden aus leidenschaftlicher Kritik an der Politik der alten, besiegten Sozialdemokratie«, gehört er nicht an. Er sieht in der Öffentlichkeitsarbeit des Auslandsbüros lediglich ein »Hilfsorgan« und betrachtet die Bindung an die Revolutionären Sozialisten als einen Schutz davor, »Strandgut der Geschichte« zu werden. Nach der vollendeten Annexion Österreichs und der drohenden des Sudetenlandes emigriert B. im Mai 1938 nach Paris, wo er im Juli an den Folgen eines Schlaganfalls stirbt.
Als politischer Theoretiker hat B. in der sozialistischen Transformation unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise und parlamentarischer Demokratie seinen zentralen Gegenstand. Er legt dabei großes Gewicht auf die Rolle von Institutionen und Organisationen. Die Hegemoniefrage wird dementsprechend auf die Organisationsfåhigkeit der Sozialdemokratie bezogen; dahinter treten die in der Vorkriegszeit für B. bedeutenden subjektiven Hemmnisse (Traditionen, Kulturbezüge usw.) bei der Ausbildung eines sozialistischen Klassenstandpunktes analytisch zurück. Das Weltbild des Kapitalismus (1924) wird von B. nicht sozialisationstheoretisch und sozialpsychologisch, sondern aus der Perspektive einer rationalistisch verkürzten »transzendenten Ideengeschichte« wahrgenommen, so alltägliche Phänomene wie Nationalismus, Apathie und Hoffnungslosigkeit spielen in diesem Kontext keine bestimmende Rolle. Auch reflektiert B. nicht hinreichend die institutionellen und organisatorischen Wendemarken, die von einer demokratisch - sozialistischen Arbeiterbewegung zu beachten wären, wenn sie auf dem Weg zu sozialer Demokratie und sozialistischer Gesellschaft in akute Bedrängnis gerät. So bezeichnet B.s Analyse des Kampfes um die Macht im Staat jedenfalls nicht jenen Punkt, an dem der Prozeß der reaktionär - gewaltsamen Rückumwandlung der demokratischen Republik in eine »Bourgeoisierepublik« das verfassungsgemäße Handeln der reformistischen Kräfte fragwürdig macht und seine Aufhebung fordert. Das Problem ist wohl erkannt und angesprochen, aber aus der Sicht der Arbeiterbewegung nicht handlungsstrategisch gelöst. Dessen ungeachtet hat B. einem realistischen Konzept für demokratisch - sozialistische Parteien unter den Bedingungen eines parlamentarisch - demokratischen Verfassungsstaates soweit vorgearbeitet wie kaum ein anderer Zeitgenosse.

August Bebel

Bebel, August, 1840/Köln—1913/Passugg (Schweiz), war der bedeutendste Führer der deutschenSozialdemokratie SPD) vordeml. Weltkrieg. In den Kasematten von Deutz als Sohn eines Unteroffiziers und eines Dienstmädchens geboren, wuchs B. in ärmlichen Verhältnissen auf. Eine Drechslerlehre schloß er 1857 mit der Gesellenprüfung ab. In Leipzig trat er 1861 dem neugegründeten Gewerblichen Bildungsverein bei und propagierte vorerst die bürgerliche Konzeption der Bildungsvereine. 1863 vertrat er den Leipziger Bildungsverein auf dem Vereinstag der deutschen Arbeitervereine in Frankfurt. Ein Jahr später wurde er in den ständigen Ausschuß des Vereinstags gewählt. Im August 1865 machte die für seine politische Entwicklung entscheidende Bekanntschaft mit W. Liebknecht. Ein Jahr später, nach dem preußisch - österreichischen Krieg, waren beide, B. und Liebknecht, maßgeblich an der Gründung der Sächsischen Volkspartei beteiligt. Als Kandidat dieser Partei wurde B. in den konstituierenden Norddeutschen Reichstag gewählt. 1869 war er einer der Initiatoren der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SPD), womit die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland ihren Abschluß fand. Nach dem Ausbruch des Deutsch - Französischen Kriegs enthielt sich B. zusammen mit Liebknecht bei der Abstimmung über die Kriegskredite im Norddeutschen Reichstag der Stimme. Im März 1872 wurde er im Leipziger Hochverratsprozeß zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. In der Haft studierte er Literatur zur Geschichte und zur Nationalökonomie. 1875 vereinigten sich die beiden sozialistischen Parteien, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Nach dem Inkrafttreten des Sozialistengesetzes bemühte sich B. mit Erfolg um die Reorganisation der orientierungslosen Partei. Im Februar 1879 erschien in erster sein Buch Die Frau und der Sozialismus, der Bestseller in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung werden sollte. Während der des Sozialistengesetzes gewann B. durch unbeugsame Haltung und durch seine packende Rhetorik eine große Popularität bei den deutschen Arbeitern. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes war er, obwohl zuerst formal nur Kassierer im Parteivorstand, der unbestrittene Führer der Sozialdemokratie, eine Art Gegenkaiser, wie schon die Zeitgenossen konstatierten.
Seit Jahren in engem Kontakt mit Engels, handelte er jedoch eigenständig nach Prüfung der konkreten Situation in Deutschland. Sowohl gegenüber der Bewegung der Jungen wie auch gegenüber der reformistischen Taktik von Vollmars setzte er zu Beginn der 1890er Jahre eine Taktik durch, die eine revolutionäre Theorie und Strategie mit positiver parlamentarischer Arbeit verband. Während der Diskussion um ein Agrarprogramm Mitte der 1890er Jahre erkannte er — weitsichtiger als andere — die Notwendigkeit, die und mittleren Bauern als Bündnispartner zu gewinnen. 1m Revisionismusstreit stand B. eindeutig auf der Seite Kautskys. 1903 inszenierte er auf dem Parteitag zu Dresden die große Abrechnung mit jeder Spielart des Revisionismus.
Sein Kampf, seine besten Reichstagsreden, galten dem preußisch - deutschen Militarismus, dem unsinnigen Wettrüsten, der Kolonialpolitik und den Soldatenmißhandlungen. Dabei war er getragen von einem festen Glauben an den unmittelbar bevorstehenden Untergang der bestehenden Gesellschaft und die Etablierung der sozialistischen, die er in seinem Buch Die Frau und der Sozialismus so plastisch beschrieben hat. Dabei überschätzte er die Möglichkeiten der Sozialdemokratie in einem System, wie es das Wilhelminische Deutschland war, was ihm sein großer Gegenspieler Jaurés immer wieder vorhielt. Als B. 1913 starb, war das Ende der großen Zeit des deutschen und internationalen Sozialismus, gleichsam des goldenen Zeitalters dieser Bewegung, eingeläutet.

Enrico Berlinguer

Berlinguer, Enrico, 1922/Sassari—1984/Padua, trat 1943 der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) bei und nahm kurzzeitig am antifaschistischen Befreiungskampf teil. 1949—56 Generalsekretär des Kommunistischen Jugendverbandes, 1957 Leiter der Zentralhochschule des PCI, 1958 der Abteilung Organisation, 1962—66 des Parteisekretariats wurde B. in den 60er Jahren zunehmend mit internationalen Aufgaben betraut. Er griff differenzierend in die Auseinandersetzungen zwischen der KPdSU und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ein und verurteilte 1968 die Intervention des Warschauer Paktes in der CSSR. In der Weiterentwicklung des von seinem politischen Mentor Togliatti entworfenen »italienischen Weges zum Sozialismus« leitete B. nach seiner Wahl zum Generalsekretär (1972) eine grundlegende Umorientierung des PCI ein. Diese schlug sich neben dem Bekenntnis zur »pluralistischen Demokratie« und den »bürgerlichen Freiheitsrechten« in einer trotz Beibehaltung einer Position der »kritischen Solidarität« zunehmend deutlicheren Distanzierung von der SU nieder. Diese Distanz vergrößerte sich 1981 angesichts der Wiederaufnahme der Beziehungen zur KPCh durch den PCI und dessen Kritik an der SU anläßlich der Ereignisse in Polen und Afghanistan. 1m Rahmen dieser Umorientierung (die unter dem Titel Eurokommunismus Schlagzeilen machte) entwarf B. 1973 die Strategie des »historischen Kompromisses«. 1975 konnte er diese Konzeption gegen erheblichen innerparteilichen Widerstand durchsetzen. Resultat dieser strategischen Wende war ein beeindruckender Ausbau der Machtposition des PCI auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene. In diesem Prozeß mußte der PCI aufgrund einerseits des Scheiterns des »historischen Kompromisses« nach der Ermordung A. Moros, andererseits der inneren Zerreißprobe, der er durch die von B. betriebene Umorientierung bis in die Gegenwart ausgesetzt ist, in der Folgezeit Rückschläge hinnehmen. Unbeschadet dessen repräsentierte B. gerade durch diesen Erneuerungsprozeß und dessen persönliche Umsetzung eine entscheidende Etappe in der Entwicklung des PCI und seines Einflusses auf die italienische Politik. Ausdruck dieser Tatsache war die ungewöhnliche Anteilnahme, unter der am 13. Juni 1984 seine Beerdigung stattfand.

Eduard Bernstein

Bernstein, Eduard, 1850/Ber1in - 1932/Berlin, Begründer des Revisionismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Sein Name ist in der internationalen sozialistischen Diskussion zum Synonym für Reformsozialismus und Revisionismus geworden. B. entstammte einer liberal geprägten jüdischen Arbeiterfamilie. Er lernte Bankkaufmann und trat 1872 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP, SPD) wegen deren Eintreten gegen die Kriegspolitik Bismarcks 1870/71 bei. In der SDAP war er bald als Redner und in anderen Funktionen aktiv. Anfänglich neigte er der Sozialismustheorie E. Dührings zu, wurde aber durch die Lektüre von Engels Anti - Dühring 1879 zum überzeugten Marxisten. Kurz vor Inkrafttreten des Sozialistengesetzes ging er 1878 als Sekretär des Publizisten und ethischen Sozialisten K. Höchberg in die Schweiz. 1881 übernahm er dort die Redaktion des Zentralorgans Der Sozialdemokrat der in Deutschland verbotenen Partei. Diese Stellung nutzte B. in ständigem Kontakt mit Engels sehr wirksam, um den Einfluß des Marxismus in der Sozialdemokratie zu stärken. 1888 aus der Schweiz ausgewiesen, redigierte er den Sozialdemokrat fortan in London, arbeitete ständig an Kautskys marxistischer Theoriezeitschrift Die Neue Zeit und wurde von Engels zu einem seiner Nachlaßverwalter bestellt. Unter dem Einfluß der Fabian Society, der politischen Verhältnisse in England sowie der deutlich werdenden Kluft zwischen der marxistischen Entwicklungsprognose und der tatsächlichen Entwicklung der kapitalistischen Länder begann B. ab 1896 die Revision des Marxismus einzuleiten und eine alternative Theorie des Sozialismus zu erarbeiten. Deren Kernpunkte entfaltete er 1899 in seinem später »Bibel des Revisionismus« genannten Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie sowie in zahlreichen nachfolgenden Büchern und Aufsätzen: Die marxistische Erwartung proletarischer Verelendung, sich verschärfender Krisen, durch Kapitalkonzentration verschwindender Kleinbetriebe und Mittelschichten habe sich nicht erfüllt. Der Sozialismus könne nicht mehr als Folge eines unvermeidlichen kapitalistischen Zusammenbruchs und als Geschichtsnotwendigkeit betrachtet, sondern müsse als schrittweise Verwirklichung des Prinzips der gleichberechtigten Selbstbestimmung aller in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verstanden und realisiert werden. Daher sei nicht das vermeintliche »Endziel«, sondern die »Bewegung« für den Sozialismus ausschlaggebend. Demokratie sei zugleich Weg und Ziel des Sozialismus. Führung und Mehrheit der SPD kritisierten B.s Auffassung scharf und wiesen sie wiederholt auf Parteitagen deutlich zurück. Wegen eines Haftbefehls konnte B. erst 1901 nach Deutschland zurückkehren. Anhänger seiner Richtung in der SPD, die ihm die große Gegenspielerrolle gegen Bebel zugedacht hatten, wie Lily Braun, waren von seiner leisen, zweiflerisch - nachdenklichen Art enttäuscht. Die Rolle des großen Agitators für seine Ideen war ihm
fremd. Er begrenzte nun seine Kritik und konzentrierte Sich auf das 1902 gewonnene Reichstagsmandat (Gebiete: Steuer - und Finanzpolitik, Außenpolitik). Nach Ausbruch des I. Weltkriegs brach B. noch 1914 wegen unterschiedlicher Haltung zum Krieg mit den meisten seiner revisionistischen Freunde und kämpfte für internationale Verständigung. Er wurde 1917 Mitglied der USPD und in der Novemberrevolution Beigeordneter im Reichsschatzamt. In der Weimarer Republik war B. bis 1928 MdR, nahm Lehraufträge an der Universität Berlin wahr und publizierte, u.a. über Sozialisierung, Geschichte und Theorie des Sozialismus, die Revolution 1918. Das Görlitzer Programm der SPD von 1921 (Programme der deutschen Sozialdemokratie) hat B. stark beeinflußt. Während er Sich aus der aktiven Politik zurückzog, begann sein Sozialismusverständnis die Sozialdemokratie zunehmend zu beeinflussen und wurde nach 1945 in der SPD dominant. In seinen letzten Jahren stritt B. innerhalb der SPD für eine offene Anerkennung der deutschen Kriegsschuld, um so der Propaganda der Nationalsozialisten wirksam zu begegnen. Bescheiden und couragiert hat er der Arbeiterbewegung durch Widerspruch gegen Entwicklungen und eingeschliffene Denkgewohnheiten gedient, die er für Hindernisse auf ihrem Weg hielt. Sein Tod Ende 1932 ersparte ihm, den Triumph des von ihm leidenschaftlich bekämpften Nationalsozialismus zu erleben.

Auguste Blanqui

Blanqui, Louis Auguste, 1805/Puget - Théniers—1881/Paris. Als einer der bedeutendsten Führer der republikanischen Opposition während der Julimonarchie war B. an fast allen Aufständen und revolutionären Erhebungen aktiv beteiligt, die von den babouvistischen und karbonaristischen Traditionen in den zahlreichen Geheimgesellschaften inspiriert waren. Er war Mitarbeiter des Globe, Mitglied der Société des Amis du Peuple sowie später der Société des Saisons bzw. Société des Familles, die A. Barbés gegründet hatte. Nach dem Aufstand vom 12. Mai 1839 wurde zuerst Barbés, später auch B. verhaftet, der bis zur Revolution von 1848 eingekerkert blieb. Nach der Februarrevolution war er sehr schnell von der Provisorischen Regierung enttäuscht; er organisierte Arbeiterdemonstrationen und war bereits vor der Juni - lnsurrektion erneut in Haft. 1856 floh er nach Brüssel und kehrte während des Deutsch - Französischen Krieges nach Frankreich zurück, wo für kurze Zeit das blanquistische Organ La patrie en danger erscheinen konnte. Obwohl er wegen gescheiterter Umsturzversuche erneut im Gefångnis war, wurde er im Frühjahr 1871 in die —Pariser Kommune gewählt, für die er eine zentrale Symbolgestalt war.
Bis zu Seiner Begnadigung 1879 hatte er insgesamt über dreißig Jahre seines Lebens in Gefängnissen verbracht, wo er u.a. Schriften zur politischen Ökonomie und über die Technik der Verschwörung und des bewaffneten Aufstandes verfaßte. Seine Anhänger sammelten Sich 1881 im Comité Révolutionnaire Central, aus dem später die Parti Socialiste Révolutionnaire wurde.

Willy Brandt

Brandt, Willy, geb. 1913 in Lübeck als nichtehelicher Sohn der Verkäuferin Martha Frahm. Unter dem Einfluß des Großvaters wird der Junge Sozialist und noch vor dem Abitur Mitglied der SPD (1930). Sein politischer Mentor dieser Jahre ist J. Leber. 1931 tritt B. zu der von der SPD links abgesplitterten —Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) über. Im April 1933 flieht der Neunzehnjährige nach Norwegen. In der Emigration setzt er die politische Arbeit fort und wird als Journalist und Buchautor tätig. Durch zahlreiche Reisen in Europa, u. a. nach Spanien und Frankreich, weitet sich sein Horizont; er wird geprägt durch die Reformpolitik der skandinavischen Sozialdemokratie. Nach deutschen Überfall auf Norwegen flüchtet B. im Juli 1940 nach Stockholm. Dort tritt er im Oktober 1944 wieder in die SPD ein. Nach dem Krieg Rückkehr nach Deutschland und zunächst in verschiedenen politischen Funktionen in Berlin. Enge Zusammenarbeit mit Reuter. 1955 zum Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses gewählt und 1957—66 Regierender Bürgermeister von Berlin. Durch die von der UdSSR ausgelöste Berlinkrise (1958/59) und den von Moskau veranlaßten Mauerbau (1961) wird der populäre Bürgermeister als Sprecher des freien Berlin in der ganzen Welt bekannt. Diese Tatsache trägt wesentlich zu seiner politischen Karriere nun auch in Bonn bei: 1958 wird er in den Parteivorstand, 1962 zum stellvertretenden und 1964 als Nachfolger von Ollenhauer zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Bei den Wahlen 1961 und 1965 gelingt es dem Kanzlerkandidaten B., den Stimmenanteil der SPD von 31, 8 % (1957) auf 39, 3 % (1965) zu steigern. Am 1. Dezember 1966 tritt er als Vizekanzler und Außenminister in das von K. G. Kiesinger (CDU) geführte Kabinett der Großen Koalition ein. Als Gründer und Kanzler der sozial - liberalen Koalition ab 1969 überwindet B. das Mißtrauen großer Bevölkerungsteile gegen eine von Sozialdemokraten geführte Regierung und verwandelt die traditionelle Oppositionspartei weit über die eigene Kanzlerzeit hinaus in eine potentielle Regierungspartei. Sein großer Wahlsieg vom November 1972 — die SPD wird mit 45, 8% zur stärksten Fraktion — wird möglich, weil der Kanzler vor allem durch seine Ost - und Entspannungspolitik große Teile der Arbeiter und des Mittelstandes, junge und alte Menschen, Männer und Frauen überzeugt. Diese neue Ostpolitik, für die B. 1971 den Friedensnobelpreis erhält, bannt die Gefahr einer außenpolitischen Isolierung der Bundesrepublik und räumt Hindernisse für eine friedliche Ost - West - Kooperation aus dem Weg. Sie mildert die Folgen der deutschen Teilung für die Menschen und dient der Spannungsminderung in Berlin. Nach verschiedenen Wahlniederlagen der SPD in den Regionen und innenpolitischen Mißerfolgen tritt B. am 6. Mai 1974 im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume, eines DDR - Spions im Kanzleramt, als Regierungschef zurück. Er bleibt jedoch Vorsitzender der SPD und beweist nach wie vor in diesem Amt eine außergewöhnliche Integrationskraft. 1976 wird er außerdem zum Präsidenten der —+ Sozialistischen Internationale (SI) gewählt; 1977 übernimmt er den Vorsitz einer international unter seinem Namen bekannten unabhängigen Nord - Süd - Kommission.

Otto Braun

Braun, Otto 1872/Königsberg—1955/Locarno, Sohn eines Eisenbahners, erlernte den Beruf eines Buchdruckers. Von Haase für die Sozialdemokratie gewonnen, entwickelte B. Sich zu einem der wenigen Landwirtschaftsexperten der SPD. 1902—12 Stadtverordneter in Königsberg, 1911—20 Mitglied des Parteivorstands der SPD, 1913—18 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1919—21 Mitglied der Preußischen Landesversammlung, 1921—33 Mitglied des Preußischen Landtages, 1919—32 Mitglied der Nationalversammlung und des Reichstags. Nach der Novemberrevolution bekleidete B. zunächst das Amt des Preußischen Landwirtschaftsministers, von März 1920 (mit kurzen Unterbrechungen in den Jahren 1921 und 1925) bis zum »Papen - Putsch« (Preußenschlag) am 20. Juli 1932 den Posten des Preußischen Ministerpräsidenten.
Die SPD besaß in B. zweifellos ihre stärkste politische Persönlichkeit der Weimarer Republik. Sein politisches Ziel war darauf gerichtet, Preußen zu einem demokratischen Bollwerk auszubauen. Die dabei errungenen Erfolge werden von der Tatsache überschattet, daß diese 1932 bereits angeschlagene Bastion beim »Papen - Putsch« auch von ihm kampflos geräumt wurde.

Fidel Castro

Castro Ruz, Fidel, geb. 1927 in Mayari, Sohn eines Großgrundbesitzers, beginnt 1945 mit dem Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Havanna, ist Mitglied revolutionärer Studentengruppen. Nach der Promotion (1950) kandidiert C. für die Radikaldemokraten bei den Parlamentswahlen 1952, die dann von F. Batista durch Militärputsch verhindert werden. C. verklagt die Diktatur vor dem Obersten Staatsgerichtshof und unterliegt. Er leitet daraus ein Widerstandsrecht ab, gründet eine Einheit von Stadtguerilleros und stürmt mit dieser am 26. Juli 1953 die Moncada - Kasernen in Santiago de Cuba. Verhaftet und vor Gericht gestellt, verteidigt C. sein revolutionäres Programm: Absetzung des Diktators, Wiedereinsetzung der Verfassung von 1940, Agrarreform, Sozialreform, Enteignung von ausländischem Kapital und korruptivem Besitz. Zu 15 Jahren verurteilt, kommt C. 1955 durch Amnestie frei und verläßt das Land.
Er sammelt Genossen, trainiert mit etwa 80 von in Mexiko, wo Guevara dazustößt, und kehrt im Dezember 1956 nach Kuba zurück, um den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Die Guerilleros bilden einen Focus in der Sierra Maestra und besitzen einen illegalen Arm in der Stadt. C. versteht, die Medien für die Zwecke seiner 300 bis 500 Kämpfer einzusetzen, und wird in der Öffentlichkeit zur politischen Alternative. Batista verliert auch die militärische Auseinandersetzung, C. zieht im Januar 1959 in Havanna ein. Er beginnt mit der gesellschaftlichen Umwälzung, durch den »Dialog mit den Massen« und gestützt auf ein Bündnis seiner Bewegung des Juli mit den Kommunisten und anderen ehemaligen Gegner Batistas. Der sozialistische Charakter der Revolution führt zu feindseligen Reaktionen der USA, was wiederum C. veranlaßt, die Bindung an die SU enger und enger zu gestalten.
Seit 1959 Ministerpräsident, übernimmt C. 1963 auch den Vorsitz des Politbüros der reformierten Vereinigten Partei der Sozialistischen Revolution (Kommunistische Partei Kubas). Es gelingt die Revolution zu festigen und eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverhältnisse des Volkes einzuleiten.

Nikita Sergejewitsch Chruschtschow

Chruschtschow, Nikita S., 1894/Kalinowkia bis 1971/Moskau, Erster Parteisekretär der KPdSU von 1953 und Ministerpräsident der UdSSR von 1958 bis 1964. Chr. war schon in da Revolutionsjahren politisch und militärisch aktiv, seit den 20er Jahren als Parteifunktionär. In den 30er Jahren unterstützte er als führendes Mitglied des stalinistischen Parteiapparats in Moskau und in der Ukraine den staatlich organisierten Massenterror und wurde 1939 Vollmitglied des Politbüros. Im II. Weltkrieg war Chr. an der Front tätig, seit 1943 als Generalleutnant. Anschließend leitete er den ukrainischen Partei - und Staatsapparat, später die Moskauer Parteiorganisation. Als Mitglied des ZK - Sekretariats war Chr. vorab für landwirtschaftliche, später für Fragen der Parteiorganisation zuständig. Nach Stalins Tod konnte er — seit September 1953 als Erster Sekretär des ZK der KPdSU — seine Stellung in zentralen Apparat ständig ausbauen. Mit seiner »Geheimrede« auf dem XX. Parteitag 1956 leitete er die sogenannte Entstalinisierung ein, die zur Rehabilitierung zahlreicher Parteimitglieder und - funktionäre sowie zur Massenentlassunz politischer Gefangener führte und sein eigentliches historisches Verdienst darstellt. Chr. setze sich gegen starke stalinistische Restaurationsbestrebungen durch und wurde 1958 auch Ministerpräsident. Immer wieder ergriff er persönlich Initiative zu Neuerungen und Reformen, um das sowjetische System den sozialökonomischen Entwicklungsbedürfnissen anzupassen. Die Chr. - Ära war eine Zeit großer Veränderungen umfassender Modernisierung, verbunden mit einem differenzierteren und flexibleren Einsatz der Machtinstrumente. Allerdings erreichte die Religions - und Kirchenverfolgung zu dieser Zeit einen neuen Höhepunkt. Überspannte wirtschaftliche Zielsetzungen, wenig durchdachte und hektisch geführte Kampagnen führten schließlich zu wachsenden Schwierigkeiten. Auch Chr.s Außenpolitik war mit vielen Risiken verbunden und verschärfte häufig die internationalen Spannungen. Zwar konnte die SU ihren Einfluß auf die Weltpolitik erheblich verstärken; zugleich aber vermehrten sich ihre Schwierigkeiten sowohl innerhalb als auch außerhalb der kommunistischen Welt. Das führte im Oktober 1964 zu Chr.s politischer Entmachtung.

Georgi Dimitroff

Dimitroff, Georgi Michailowitsch, 1882/Kowatschewiza—1949/Moskau, entstammte einer Handwerkerfamilie und war von Beruf Setzer. 1901 wurde er Sekretär des Druckerverbandes von Sofia, 1902 Mitglied der bulgarischen Sozialdemokratie, bei deren Spaltung (1903) er sich den Linken (Tesni) anschloß. 1904 Funktionär des Allgemeinen Arbeiter - und Gewerkschaftsverbands; fortan führend in der Gewerkschafts - und Streikbewegung. 1909 ZK der Tesni, 1913—23 Abgeordneter im Parlament. Während des I. Weltkriegs engagierte sich D. u.a. für das Projekt einer sozialistischen Balkanföderation. Als Delegierter der Kommunistischen Partei Bulgariens nahm er 1921 am III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (KI) und am Gründungskongreß der Roten Gewerkschafts - lnternationale (RGI) teil. Er gehörte zu den Führern des Septemberaufstands 1923 und mußte deshalb ins Exil gehen, wo er hohe Funktionen für die KI und die RGI wahrnahm. Seit 1929 Leiter des westeuropäischen Büros der KI in Berlin; 1933 Angeklagter im Reichstagsbrandprozeß. Durch seine erfolgreiche Verteidigung erwarb er sich weltweit Ansehen als Gegner des NS - Regimes. 1934 kam D. als Sowjetbürger nach Moskau, setzte sich für eine Revision der KI - Strategie ein, wurde 1935 Generalsekretär der KI und galt als der Repräsentant des Volksfrontkonzepts (Volksfront). 1937 - 45 Mitglied des Obersten Sowjet. Im II. Weltkrieg arbeitete D. für die KI, die KPdSU und den bulgarischen Widerstand. 1945, nach der Rückkehr in die Heimat, stand er an der Spitze der Kräfte, die Gesellschaft und Staat erst nach volksdemokratischen Vorstellungen, 1948 dann nach sowjetischem Vorbild umgestalteten.

Friedrich Ebert

Ebert, Friedrich, 1871/Heidelberg—1925/Berlin, Sohn eines Schneidermeisters, besuchte die Volksschule, 1885—88 Sattlerlehre, bis 1891 Wanderschaft. 1889 trat E. der SPD und der Gewerkschaft bei. 1891—1905 lebte er in Bremen, wurde dort Vorsitzender der lokalen Parteiorganisation und der Bremer Filiale der Sattlergewerkschaft sowie Mitarbeiter der Bremer Bürger - Zeitung. 1894 heiratete er Louise Rump und übernahm gemeinsam mit ihr eine Gastwirtschaft, Treffpunkt von Sozialdemokraten. 1900 zum Arbeitersekretär ernannt und in die Bremer Bürgerschaft gewählt, wurde er bald über die lokalen Grenzen hinaus bekannt. Seit 1905 gehörte E. dem Parteivorstand an mit der Funktion eines Sekretärs, 1908 kam die des Vorsitzenden der neugegründeten Zentralstelle für die arbeitende
Jugend Deutschlands hinzu. E. zog 1912 in den Reichstag ein und wurde Mitglied des Vorstands der SPD - Fraktion. 1913 wurde er neben Haase Vorsitzender der SPD.
Während des I. Weltkrieges wuchsen E.s Einfluß in der SPD und sein Ansehen in der Öffentlichkeit. Im innerparteilichen Konflikt über Kriegskreditbewilligung und Burgfriedenspolitik stand E., im Gegensatz zu Haase, auf Seiten der Partei - und Fraktionsmehrheit. Nach Haases Rücktritt als Fraktionsvorsitzender übernahm E. im Januar 1916 dieses Amt. Im Metallarbeiterstreik Januar/Februar 1918 trat E. in dessen Leitungsausschuß ein mit der Absicht, den Streik rasch zu beenden. Als die SPD Ende September 1918 über den Eintritt in die Regierung entscheiden mußte, war es vor allem E., der sie zum Eintritt bewog. Am 9. November 1918 übergab Reichskanzler Prinz Max von Baden sein Amt an E. SPD und USPD bildeten am 10. November 1918 den Rat der Volksbeauftragten, E. und Haase wurden seine Vorsitzenden, E. hatte faktisch die Leitung. E.s Politik zielte auf einen raschen Übergang von der Novemberrevolution zur parlamentarischen Demokratie. Am 11. Februar 1919 von der verfassunggebenden Nationalversammlung zum provisorischen Reichspräsidenten gewählt, erklärte E., er werde »als Beauftragter des ganzen deutschen Volkes handeln«, doch weder seine Herkunft aus dem Arbeiterstand noch seine Verbundenheit mit der Gedankenwelt des Sozialismus verleugnen. Im Oktober 1922 verlängerte der Reichstag E.s Amtszeit bis zum 1. Juli 1925. Als Reichspräsident stand E. enormen innen - und außenpolitischen Problemen gegenüber. Auch seine persönliche Position war äußerst schwierig. Von breiten Kreisen des Bürgertums wurde er seiner sozialen und politischen Herkunft wegen abgelehnt, seine Beteiligung am Streikausschuß im Januar 1918 wurde als »Landesverrat« geschmäht, in 173 Beleidigungsprozessen mußte er sich verteidigen.
An seiner eigenen Partei hatte er keinen festen Rückhalt, denn manche seiner Entscheidungen, vor allem die Verhängung des Ausnahmezustands in Sachsen und Thüringen 1923, stießen in der SPD auf heftige Kritik. In der kommunistischen Geschichtsschreibung gilt E. als »Arbeiterverräter«. In der nichtkommunistischen ist das Urteil uneinheitlich. Unterschiedlich bewertet wird u.a. die Tatsache, daß E. in den Revolutionsmonaten Eingriffe in die kapitalistische Gesellschaftsstruktur abwehrte und damals wie auch als Reichspräsident schärfer gegen linke als gegen rechte Radikale vorging.

Friedrich Engels

Engels, Friedrich, 1820/Barmen—1895/London. Als Sohn des erfolgreichen Industriellen F. Engels sen. wächst E. in pietistischer Familie auf und durchläuft in Barmen und Bremen bis 1841 zunächst eine kaufmännische Lehre. Während des anschließenden einjährigen freiwilligen Militärdienstes ist er Gasthörer an der Berliner Universität, verkehrt im junghegelianischen Bund der Freien (u.a. B. und E. Bauer, M. Stirner, K. F. Köppen, A. Ruge) und begegnet Marx. 1842 publiziert er eine Streitschrift gegen F. W. J.
v. Schelling, arbeitet an der Rheinischen Zeitung mit und lernt Hess kennen, der ihn für den Kommunismus begeistert. Für zwei Jahre tritt er zur Beendigung der Lehre in die Spinnerei Ermen & Engels in Manchester ein, trifft mit Chartisten (Chartismus) und Owenisten (Frühsozialismus) zusammen. Für die von Marx und Ruge in Paris herausgegebenen Deutsch - Französischen Jahrbücher verfaßt er die Umrisse einer Kritik der Nationalökonomie, ein Plädoyer gegen die auf dem Tauschwert und für eine auf dem Gebrauchswert basierende Ökonomie, das auf Marx großen Einfluß ausübt. Beide stehen nun in engstem Kontakt. Eine engagierte Anklage gegen den Industriekapitalismus liefert E. in seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England 1845 zieht er nach Brüssel, wo Marx inzwischen wohnt, und reist mit ihm nach London und Manchester, nachdem die gemeinsam verfaßte Arbeit gegen B. Bauer, Die heilige Familie, erschienen ist
Unveröffentlicht bleibt das mit Marx geschriebene Manuskript Die deutsche Ideologie (1845/46), eine Verabschiedung des Junghegelianismus und ein Programm für eine materialistische Geschichtsauffassung. Politisch engagiert sich E. durchgehend für eine überregionale und internationale Koordinierung der radikaldemokratischen und kommunistischen Organisationen, schreibt für den chartistischen Northern Star, tritt bei rheinischen Sozialisten für den Kommunismus ein, organisiert in Brüssel mit Marx ein kommunistisches Korrespondenz - Komitee, das mit sozialistischen Gruppen in Deutschland, England und Frankreich in Verbindung steht. In Paris wird E. ab 1846 im Bund der Gerechten gegen Hess, W. Weitling, aktiv. 1847 tritt er mit Marx in den Bund ein, nimmt am ersten Kongreß der jetzt Bund der Kommunisten genannten Organisation in London teil und verfaßt in Paris die Grundsätze des Kommunismus, eine Vorarbeit des 1847 nach dem zweiten Kongreß mit Marx geschriebenen Manifests der Kommunistischen Partei. Aus Paris ausgewiesen, arbeitet E - nach Ausbruch der 1848er Revolution wieder in Paris in der Zentralbehörde des Bundes, übernimmt im April mit Marx die revolutionäre Neue Rheinische Zeitung (NRZ), die ab Juni erscheint. In den folgenden Monaten exponiert er sich engagiert in der deutschen Revolution als Redakteur der NRZ, auf öffentlichen Veranstaltungen, muß zweimal aus Köln fliehen, tritt im Juni 1849 in die badisch - pfälzische Armee als Adjutant A. Willichs ein und geht nach der Niederlage der Revolution über die Schweiz und Italien nach England, wo Marx kurz zuvor Exil gesucht hat. Mit ihm zusammen versucht er, den Bund zu reorganisieren, was 1850 in London zur Spaltung führt. In Manchester tritt er in das Geschäft Ermen & Engels ein, wo er bis 1869 als Kaufmann und Gesellschafter arbeitet. Dadurch muß er eigene Studien zurückstellen, unterstützt aber tatkräftig diejenigen Marxens an einer Kritik der Politischen Ökonomie. Zunehmend spezialisiert sich E. auf militärgeschichtliche und militärtheoretische Themen und ist durch seine Publikationen auf diesem Gebiet als Experte anerkannt. 1870 zieht er sich vom Geschäft zurück, wird in den Generalrat der Internationalen Arbeiter - Assoziation aufgenommen, wo er den proudhonistischen und bakunistischen Einfluß bekämpft. Inzwischen nach London umgezogen, widmet er sich auch wieder eigenen wissenschaftlichen Arbeiten. In dem mit Marx verfaßten Buch Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), in der Broschüre Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1882), in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) und vor allem in den unabgeschlossenen Arbeiten über eine Dialektik der Natur tritt ein selbständiger philosophischer und wissenschaftlicher Ansatz zutage. Nach Marxens Tod arbeitet er sich in dessen nachgelassene Manuskripte ein und redigiert den zweiten und dritten Band von Kapital (1885, 1894). Zugleich wird er unbestrittener Kopf der deutschen Sozialdemokratie (SPD), deren Aufstieg er bis zu seinem Tode aktiv miterlebt und beeinflußt. Insbesondere ist er theoretischer und politischer Lehrer für W. Liebknecht, Bebel, Bernstein und Kautsky. Er versuch der neuen Generation in der Arbeiterbewegung, vor allem in der deutschen, die mit Marx der Auseinandersetzung mit dem Linkshegelianismus, Sozialismus und Kommunismus entwickelte eigene politische Position mitzuteilen.
Als autorisierter Herausgeber und Interpret der Arbeiten Marxens begründet E. die marxistische Tradition in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.

1. Mai

Erster Mai. Der E.M. ist seit 1889 auf Anregung des Gründungskongresses der II. Internationale von der Arbeiterbewegung vieler Länder als ein Kampf - und Feiertag zunächst vornehmlich zur Durchsetzung des Achtstundentags, später zunehmend als Gedenktag zur Würdigung der Arbeit und zur Demonstration der Ziele und Interessen der Arbeiter und ihrer Organisationen gefordert und begangen worden.
In den Anfängen hatten die Maifeiern den Charakter eines Festtags des internationalen Proletariats im Kampf gegen Bürgertum und herrschende Klassen, und sie haben die Festkultur der Arbeiterbewegung bald maßgeblich bestimmt.
Am 1. Mai 1890 fanden in vielen Staaten große Demonstrationen der Arbeiterbewegung statt. In Deutschland entzündeten sich an der Maifeier zunächst Auseinandersetzungen zwischen der Parteileitung der SPD und den opponierenden Jungen, die im Sinne der ersteren zugunsten einer eher vorsichtigen Taktik mit dem Ziel der Durchsetzung der Arbeitsruhe entschieden wurden. Die Maifeier, die schon 1890 Anlaß zu großen, verlustreichen Arbeitskämpfen gewesen war und an die sich immer wieder Aussperrungen von Unternehmerseite knüpften, wurde nach der Jahrhundertwende von den Gewerkschaften unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die wirtschaftlichen Ziele der Arbeiterschaft diskutiert; zugleich erreichte damals die sozialistische Maifeier - Festkultur Höhepunkte der Ausgestaltung.
Anträge, den E. M. zum gesetzlichen Feiertag zu erklären, scheiterten in der Weimarer Nationalversammlung (1919), hatten dagegen in einigen Ländern des Deutschen Reichs (Hamburg, Sachsen u.a.) ebenso wie in Österreich Erfolg.
Darüber hinaus konnte an vielen Orten die Arbeitsruhe durchgesetzt werden, doch blieb die Maifeier in der Zwischenkriegszeit etwa in Italien, Frankreich und Spanien Anlaß zu oftmals blutigen Kämpfen.
Zu den ebenso geschickten wie terroristischen Machtanmaßungen der NS - Diktatur gehörte die Einrichtung des gesetzlichen Feiertags zum 1. Mai 1933. Während an diesem Tag nach einem Aufruf des ADGB gewerkschaftliche und NS - Formationen Aufmärsche und Großkundgebungen durchführten, wurden am 2. Mai die Gewerkschaftszentralen von SA und SS gestürmt, und die Auflösung der Gewerkschaften folgte.
Nach dem II. Weltkrieg hat die Maifeier in Deutschland als gewerkschaftliche Machtdemonstration anfangs noch eine größere Rolle gespielt, verkümmerte aber im Laufe der Zeit oftmals zu einem Feiertag unter anderen. In den kommunistischen Staaten wird die Maifeier zur Demonstration des Machtwillens der Arbeiterklasse und ihrer Einheitspartei unter militärischem Gepränge begangen.

Gewerkschaften

Italien: Gewerkschaften. Die kommunistisch - sozialistisch geprägte CGIL, die stark christdemokratisch beeinflußte CISL und die vorwiegend sozialistisch - sozialdemokratische UIL sind die wichtigsten Gewerkschaftsbünde Italiens. Von 1972 an waren sie in einer Art losem Dreierbündnis vereinigt, das 1984 wegen unterschiedlicher parteilicher Bindungen, unterschiedlicher sozialer und politischer Positionen und an der Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander zerbrochen ist. Neben diesen drei Bünden gibt es noch die rechtsradikale CISNAL, der neofaschistischen Partei MSI eng verbunden, sowie eine kaum definierbare Zahl sogenannter autonomer Gewerkschaften, die häufig als Standesorganisationen die Interessen kleiner Berufsgruppen vor allem im öffentlichen Dienst und im Verkehrssektor vertreten und die in den letzten Jahren zu Lasten der traditionellen Gewerkschaften sehr stark an Boden gewonnen haben (zur Zeit über I Mio. Mitglieder). Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist insgesamt relativ hoch. Er betrug Ende der 70er Jahre rund 50% und sank bis zum Jahre 1984 auf ungefähr 45% ab.
Allgemeiner Italienischer Bund der Arbeit (Confederazione Generale Italiana del Lavoro — CGIL). Die CGIL ist 1944 nach dem Fall des Faschismus als Einheitsgewerkschaft von Christdemokraten, Sozialisten und Kommunisten gegründet worden. Schon bald danach wurde sie in den Machtkampf der Parteien Nachkriegs - ltaliens sowie in den Kalten Krieg hineingerissen, was zur Folge hatte, daß sich von der rasch kommunistisch dominierten CGIL im Jahre 1948 die christdemokratische Komponente abspaltete und im April 1950 zur CISL wurde, während im März 1950 Sozialdemokraten, Republikaner und Sozialisten die UIL gründeten. Genaue Aussagen über Zahl und Zusammensetzung der Mitgliederschaft der CGIL sind schwierig, zumal ein sorgfältig ausbalancierter innergewerkschaftlicher Proporz zwischen den verschiedenen Gruppierungen, welcher der Ämter - und Funktionsverteilung zugrunde liegt, einer nüchternen Mitgliedererfassung im Wege steht. Ihren Rekordstand hatte sie 1978 mit rund 3, 5 Mio. aktiven Arbeitnehmern, während es Ende 1983 noch etwa 3 Mio. waren. Die Verluste in der aktiven Arbeitnehmerschaft hatten zur Folge, daß der Anteil von Rentnern an der Mitgliedschaft absolut und relativ stieg: von rund 1 Mio. im Jahre 1978 auf 1, 3 Mio. Ende 1983 (1972: Rentner, 1983: 28 In diesen Zahlen spiegelt sich die verlorengegangene absolute Dominanz der CGIL innerhalb der italienischen Gewerkschaftsbewegung, die Schwierigkeiten, bei Angestellten und in Zukunftsindustrien Fuß zu fassen sowie eine gewisse gesellschaftliche und politische Defensive und Isolation wider, in die die CGIL in den letzten Jahren hineingeraten ist. Dennoch ist die CGIL immer noch die führende Organisation in der italienischen Gewerkschaftsszene. Nach eigenen Angaben besteht die Mitgliederschaft der CGIL zu rund 60% aus Kommunisten, 30% aus Sozialisten und 10% aus der sogenannten dritten Komponente (links von den Kommunisten stehende Gruppierungen sowie Basisgruppen). Die Besetzung sämtlicher Funktionen und Ämter richtet sich nach diesem Proporz.
Chef der CGIL ist der Kommunist L. Lama, die seit langen Jahren wichtigste Persönlichkeit in der italienischen Gewerkschaftsbewegung, der weit über das Gewerkschaftslager hinaus im Lande Ansehen und Sympathie genießt. Zusammen mit der reformistischen Integrationsfigur Lama bildet der Sozialist O. del Turco das Führungsgespann der CGIL, wie Lama ein auf Ausgleich und relative Parteiunabhängigkeit der CGIL bedachter Gewerkschaftsführer. Neben diesen beiden sind die Kommunisten B. Trentin und S. Garavini zu nennen, beide Kandidaten die Nachfolge Lamas als CGIL - Chef. Während Trentin für ein stärkeres Engagement der CGIL auf betrieblicher Ebene und für eine größere Basisnähe steht, gilt Garavini als der Mann der Italienischen KP (PCI) in der CGIL, der diese mit der Partei stärker verklammern, d.h. in der gegenwärtigen politischen Situation: die CGIL für die kommunistische Partei stärker instrumetalisieren will.
Der größere Teil der Mitgliederschaft ist Fachgewerkschaften unter dem Dach der CGIL organisiert, vergleichbar dem DGB und seinen Branchengewerkschaften. Der Einigungsprozeß Anfang der 70er Jahre hat jedoch fünf Fachgewerkschaften hervorgebracht, in denen Mitglieder aller drei Gewerkschaftsbünde zusammenfaßt sind (u.a. Metaller und Textiler). Nach dem Bruch des Dreier - Bündnisses im Jahre 1984 ist jedoch auch das Überleben dieser nach dem Einheitsmodell konstruierten Fachgewerkschaften unsicher.
Die CGIL ist besonders im Kampf für die weitgehende Erhaltung der »scala mobile« engagiert — des Systems, durch das in Italien die Löhne an die Preisentwicklung gekoppelt werden. Sie verteidigt dieses System zusammen mit dem PCI gegen die Regierung und auch gegen CISL und UIL, die im Prinzip wieder stärker auf Tarifverhandlungen anstelle der Lohnpreisautomatik setzen wollen. Bedingt durch die derzeitige Schwäche der G. in Italien im allgemeinen und die der CGIL im besonderen, arbeitet sie wieder stärker als in der Vergangenheit mit und in Abhängigkeit vom PCI gegen die vom Sozialisten B. Craxi geführte Regierung, was nicht nur zu starken Konflikten mit CISL und UIL, sondern zeitweise auch mit der eigenen sozialistischen Minderheitsfraktion geführt hat und die Positionsbestimmung nach wie vor schwierig gestaltet.
International hatte der Kalte Krieg dazu geführt, daß die CGIL zunächst beim Weltgewerkschaftsbund (WGB) geblieben war, während CISL und UIL dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) beitraten. Das allmähliche Ausscheiden der CGIL aus dem WGB erleichterte auf dem Höhepunkt des Einigungsprozesses der italienischen Gewerkschaften im Jahre 1974 den Beitritt zum Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), der insbesondere durch Fürsprache der CISL und UIL, die dort bereits Mitglieder waren, erleichtert wurde.
Italienischer Bund der Arbeitergewerkschaften (Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori CISL). Die christdemokratische Komponente, die sich 1948 infolge des Kalten Krieges von der CGIL abspaltete, konstituierte sich 1950 formell als CISL. Sie hält sich seit Jahren bei einem Mitgliederbestand von ungefähr 2, 9 Mio., wobei, ähnlich wie bei der CGIL, der Rentneranteil stark ansteigt. Im Gegensatz zur CGIL, die ihren Rückhalt in den Industriezonen des Nordens, insbesondere in den kommunistisch regierten Regionen Emilia - Romagna und Toskana hat, ist die CISL besonders stark im Süden sowie bei den Landarbeitern und im öffentlichen Dienst. Ursprünglich fest in christdemokratischer Hand, ist ihre Mitgliederstruktur heute ziemlich heterogen, dies insbesondere infolge einer zunehmenden Distanzierung von der Democrazia Cristiana (DC) in den 70er Jahren. Nach eigenen Angaben sind die Mitglieder zu rund 50% christdemokratisch und zu 30% sozialdemokratisch - sozialistisch orientiert; 20% sind Anhänger des PCI oder sogar ultralinker Gruppen. Nach eigenem, zum Teil sicher berechtigtem Selbstverständnis ist die CISL die von den Parteien unabhängigste Gewerkschaft; sie sieht sich selbst als Einheitsgewerkschaft nach dem Modell des DGB. Diese Unabhängigkeit spiegelte sich in der Parteilosigkeit ihres langjährigen Chefs, des Linkskatholiken P. Carniti, wider. Sein Stellvertreter Marini ist dagegen Mitglied der DC, wie die meisten Vorstandsmitglieder der CISL. Er löste Carniti im Juli 1985 als Vorsitzenden ab. Innerhalb der DC bildet die CISL - Fraktion eine recht unabhängige und häufig oppositionelle Gruppierung. Die CISL präsentiert sich heute gegenüber der CGIL betont hart und zuweilen aggressiv; sie versucht, ihr die Führungsposition innerhalb des Gewerkschaftslagers abzulaufen. Im Gegensatz zur CGIL, die noch stärker auf den Arbeitskampf in seiner spezifisch italienischen Ausformung und Tradition setzt, sucht die CISL ihre Erfolge eher im Weg von Verhandlungen und Partizipationen an der Macht. Sachliche Priorität hat bei ihr zur Zeit die Reinstitutionalisierung der Tarifverhandlungen, die in den vergangenen Jahren wegen der »scala mobile« eine immer geringere Bedeutung hatten. Daneben spielt vor allem der Kampf um Arbeitszeitverkürzung eine Rolle, als deren Protagonist die CISL sich in Italien sieht. Wie bei der CGIL sind die Mitglieder der CISL zumeist in Fachgewerkschaften unter ihrem Dach organisiert, abgesehen von den fünf oben bereits erwähnten Gewerkschaften. International ist die CISL Mitglied des IBFG und des EGB.
Italienische Arbeiterunion ( Unione Italiana del Lavoro UIL). Auch die UIL ist durch eine Abspaltung von der CGIL im März 1950 entstanden. Mit knapp 1, 3 Mio. Mitgliedern ist sie die kleinste der drei Richtungsgewerkschaften, jedoch die einzige, die in den letzten Jahren — leicht — dazugewonnen hat. Die Rentner machen bei ihr einen geringeren Prozentsatz der Mitglieder aus als bei CGIL und CISL. Sie ist besonders stark vertreten im privaten und öffentlichen Dienstleistungssektor, bei Technikern sowie auch in Zukunftsindustrien. Ihr Vorsitzender ist G. Benvenuto, ein Sozialist, der vom Sozialdemokraten G. Liverani vertreten wird. In der UIL haben die Sozialisten die Mehrheit; außerdem sind in ihr Sozialdemokraten sowie — in geringem Maße Republikaner organisiert. Thematisch ist die UIL insbesondere im Kampf gegen die Steuerhinterziehung und Steuerflucht vieler Selbständiger engagiert. Im übrigen nimmt sie häufig vermittelnde Positionen ein, die zwischen denen der beiden Großen liegen und die ihr in der Öffentlichkeit oft als Konzeptionslosigkeit oder Opportunismus ausgelegt werden. Sie hat in den letzten Jahren einen Rollenwechsel »vom Antagonismus zum Protagonismus« vollzogen, fühlt sich zunehmend als Teilhaberin des Systems, insbesondere seit der Präsidentschaft des Sozialisten Craxi, und verhält sich dementsprechend häufig regierungskonform. Darüber hinaus bemüht sie sich intensiv um die Wiederherstellung der Einheitsförderation CGIL - CSIL - UIL. Wie die CISL gehört auch die UIL dem IBFG sowie dem EGB an.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow

Gorbatschow, Michail Sergejewitsch, geb. 1931 im Dorf Priwolnoje in der Region Stawropol an den nördlichen Ausläufern des Kaukasus als Sohn russischer Bauern. 1946 - 50 war G. Mechanisator in einer Maschinen - Traktoren - Station in seiner Heimatregion, 1950—55 studierte er Rechtswissenschaften an der Moskauer Lomonossow - Universität und war in dieser Zeit Komsomolfunktionär seiner Fakultät. G. trat 1952 der KPdSU bei. Sein politischer Aufstieg begann 1955 in der Jugendorganisation der KPdSU und vollzog sich bis Anfang der 70er Jahre ganz in Stadt und Region Stawropol. Aus der Stellung eines Ersten Sekretärs des Regionskomitees des Komsomol von Stawropol heraus wurde G. 1962 Parteiorganisator der territorialen Produktionsverwaltung der Kolchosen und Sowchosen des Regionskomitees der KPdSU und, nach einigen Zwischenschritten, 1966 Erster Sekretär des Stadtparteikomitees der KPdSU von Stawropol. 1967 schloß er ein Studium am Stawropoler Landwirtschaftsinstitut als wissenschaftlicher Agrarökonom ab. 1970 - 78 Erster Sekretär des Regionskomitees der KPdSU von Stawropol, wurde G. 1971, ohne vorherige Kandidatur, Mitglied des ZK. 1978 stieg er zum ZK - Sekretär auf und ging nach Moskau, wo er für die Landwirtschaft zuständig war. 1979 Kandidat, 1980 Mitglied des Politbüros, war G. seit März 1984 als Zweiter Sekretär für Ideologie verantwortlich und vertrat den kränkelnden Generalsekretär K. Tschernenko. Im März 1985 wurde G. Tschernenkos Nachfolger als Generalsekretär des ZK der KPdSU. Seit 1970 Deputierter des Unionssowjets des Obersten Sowjets der UdSSR, hat G. in einer Reihe von Ständigen Kommissionen dieses Staatsorgans Erfahrungen gesammelt: Naturschutz und rationelle Ausnutzung der Naturressourcen, Jugendfragen, Gesetzesvorlagen, Auswärtige Angelegenheiten. Auch hatte er vorübergehend den Vorsitz der Kommission für die Reform der allgemeinbildenden und Berufsschulen inne. G.s politische Vorstellungen ähneln denen seines großen Förderers Andropow.

Antonio Gramsci

Gramsci, Antonio, 1891/Ales—1937/Rom, italienischer Arbeiterführer und bedeutender marxistischer Theoretiker. Nach Kindheit und Schule in Sardinien Studium der Philosophie, Geschichte und Sprachwissenschaft in Turin. Mitglied der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) und Mitarbeit bei verschiedenen sozialistischen Blättern. 1919 gründete G. zusammen mit Togliatti, A. Tasca und anderen die Wochenzeitschrift Ordine Nuovo, in der er die Erfahrungen der russischen »Sowjets« aufnahm und eine Theorie der Fabrikräte entwickelte. Aus der Ordine Nuovo - Gruppe und aus der Gruppe Soviet um A. Bordiga ging 1921 die Italienische Kommunistische Partei (PCI) hervor. G. trat ihr bei und wurde Mitglied des ZK.
Nach Auslandsaufenthalten u.a. in Moskau und Wien (1922—24) wurde G. Parlamentsabgeordneter und genoß so Immunitätsschutz. Auf dem dritten Kongreß des PCI in Lyon (1926) kam es zu Auseinandersetzungen über die bisherige Führung unter Bordiga. Gegen dessen sektiererische Politik betonte G. die qualitativ neuen Aspekte des Faschismus als reaktionärer Massenbewegung. Unter Einbeziehung der italienischen »Südfrage« forderte er eine breite antifaschistische Bündnispolitik. Nach der Niederlage der Bordiga - Gruppe wurde er zum neuen Parteisekretär gewählt. Wenig später, im November 1926, wurde G. festgenommen und zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Der Aufenthalt in diversen Gefängnissen verschlimmerte seinen angegriffenen Gesundheitszustand und führte 1937 zum Tod.
Im Zentrum von G.s frühen theoretischen Arbeiten standen literaturkritische, kulturpolitische und allgemein - politische Fragestellungen. G. begrüßte die Oktoberrevolution (Russische Revolutionen 1917) als »Revolution gegen Das Kapital, d.h. gegen die mechanistische, in der Praxis reformistische Auslegung des Marxschen Werkes in der Tradition der II. Internationale, und betonte die Notwendigkeit einer Dialektik von Objektivität und Subjektivität, von Theorie und revolutionärem Handeln. Während der Haft verfaßté G. eine Reihe von Abhandlungen, Skizzen und theoretischen Reflexionen, die als Gefängnishefte (Quaderni del carcere) nach seinem Tod herausgegeben wurden und zu den bedeutendsten marxistischen Schriften der Zwischenkriegszeit zählen. In ihnen geht G. ein auf die Probleme der italienischen Nationalgeschichte, auf die Rolle der Intellektuellen im Kampf um die Hegemonie im Staate, auf Fragen des Zusammenhangs von Basis und Überbau und allgemein auf staats - und kulturtheoretische Probleme. G. fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer revolutionären gesellschaftlichen Veränderung in den hochentwickelten westlichen Gesellschaften. Im Unterschied zum vorrevolutionären, autokratischen Rußland sei im »Westen« die zwischen dem Staat im engeren Sinne — verstanden als Zwangsapparat — und der ökonomischen Basis angesiedelte bürgerliche Gesellschaft (»societa civile«) von größter Bedeutung.
In ihr sind die »organischen Intellektuellen« der jeweils herrschenden - + Klasse in den verschiedenen Hegemonieapparaten wie Schulen, Gewerkschaften, Kirchen, Medien, Vereinen usw. tätig. Sie stellen den Konsens unter den Mitgliedern des herrschenden Blocks her und »zementieren« ihn durch die Verbreitung und Popularisierung der herrschenden Weltanschauung. Gelingt es einer Klasse, die politische Vorherrschaft nicht nur auf repressivem Wege unter Einsatz staatlichen Zwangs, sondern auch durch die Gewinnung von Loyalität und konsensueller Zustimmung abzusichern, so spricht G. von »hegemonialer Herrschaft«. Historisches Vorbild sind ihm die Jakobiner, denen es in der Französischen Revolution gelang, ein breites antifeudalistisches Bündnis herzustellen. Demgegenüber habe in Italien nur eine »passive Revolution«, d. h. eine von oben herbeigeführte Modernisierung unter Ausschluß der großen Masse des Volkes stattgefunden. Hegemoniale Herrschaft ist für G. die Voraussetzung für die Existenz eines »historischen Blocks«, den er als Einheit von Basis und Überbau definiert, d. h. als Übereinstimmung zwischen der sozio - ökonomischen Basis und der vorherrschenden Weltanschauung und ihrer Habitualisierung in Einstellungen, Gebräuchen, Sitten und Gewohnheiten.
G.s Bedeutung als marxistischer Theoretiker liegt in der Ausweitung des marxistisch - leninistischen Staatsverständnisses und in der Wiederbelebung dialektischen Denkens gegenüber mechanistischen Verflachungen und Vulgarisierungen.
Der Staat in den westlichen Gesellschaften ist für G. nicht nur repressives Zwangsorgan, sondern in einem weiteren Sinne auch Ort der Herstellung und Absicherung von Hegemonie. Eine hegemoniale Klasse »herrscht« nicht nur, sondern »führt« auch im ideologisch - weltanschaulichen Sinne die mit ihr verbündeten Schichten und Gruppen. Diese hegemoniale Führungsfähigkeit (Hegemonie der Arbeiterklasse) ist für G. die Voraussetzung für die Machtergreifung selbst und muß ihr vorausgehen, wenn eine zur Macht drängende, bisher subalterne Klasse der Gefahr einer »cäsaristischen« Diktatur, in der die Komponente des staatlichen Zwanges vorherrscht, entgehen will. Revolutionsstrategisch folgert G. daher, daß im Westen nur ein langwieriger, zäher »Stellungskrieg« zum Erfolg führen könne, bei dem zunächst in einem langen Prozeß »intellektueller und moralischer Reform« die Hegemonieapparate der bürgerlichen Gesellschaft und dann erst die Staatsgewalt im engeren Sinne erobert werden. Dem »Stellungskrieg« stellt er den kurzen, frontal geführten »Bewegungskrieg« gegenüber. Er war unter den besonderen historischen und konjunkturellen Bedingungen Rußlands erfolgreich, kann aber nicht als Modell auf andere Länder übertragen werden. Von zentraler Bedeutung ist ebenfalls G.s Kampf gegen ein ökonomistisches Marxismus - Verständnis. Ein theoretischer Reduktionismus, der alle Manifestationen des Überbaus auf Epiphänomene der ökonomischen Basis reduziert, führt in der Praxis zu einer abwartenden, passiven und reformistischen Politik. Gegenüber diesen Tendenzen betonte G. den dialektischen Charakter des Marxismus als »Immanenzphilosophie«, als »Philosophie der Praxis«, und hob die relative Eigenständigkeit des Überbaus hervor. G.s Nachwirkung geht weit über Italien hinaus. Als Mitgründer des PCI und bedeutendster Theoretiker des italienischen Marxismus hat er die Entwicklung seiner Partei vor und nach dem II. Weltkrieg entscheidend mitgeprägt. Nachhaltigen Einfluß übt G. auf linkssozialistische und reformkommunistische Kräfte und Intellektuelle in Westeuropa und Lateinamerika aus.

Ernesto Che Guevara

Guevara, Ernesto, genannt Che, 1928/Rosario (Argentinien)—1967/Higuera (Bolivien), Sohn eines Kleinunternehmers, studiert Medizin in Cordoba und legt 1953 das Diplom als Chirurg und Facharzt für Dermatologie ab. Im selben Jahr geht G., der regen Anteil an der politischen Entwicklung Lateinamerikas nimmt, nach Bolivien, um dort in der Verwaltung für Kultur und im Amt für die Vorbereitung der Agrarreform zu arbeiten. Bald enttäuscht, reist er nach Guatemala weiter, wo die Regierung J. Arbenz wirtschaftliche und politische Reformen vorbereitet. Als sie von putschendem Militär gestürzt wird, ruft G. dazu auf, zur Verteidigung der Demokratie ein Volksheer zu bewaffnen. Nur mit Hilfe des argentinischen Botschafters gelingt ihm danach die Flucht nach Mexiko. In Mexiko - Stadt heiratet G. 1954 Hilda Gadea, eine peruanische Sozialistin, und lernt im Juni 1955 Castro kennen, der ihn überzeugt, am kubanischen Befreiungskampf teilzunehmen. So ist G. an Bord, als die kubanischen Guerilleros im Dezember 1956 auf der Granma in ihre Heimat zurückkehren. In den ersten Kämpfen bewährt sich Che als Militärarzt wie als militärischer Führer, Castro befördert ihn im Juni 1957 zum Comandante - G. befehligt die Einheit, die Ende des Jahres Santa Clara einnimmt und damit den Weg nach Havanna öffnet. Er zieht dort am 2. Januar 1959 ein und besetzt die Festung. Durch Präsidentendekret eingebürgert, reist G. im Sommer im Auftrag der revolutionären Regierung nach Nordafrika und Asien, um die Unterstützung der Blockfreien zu gewinnen. Im Oktober 1959 wird er Leiter der Industrieabteilung des Nationalinstituts für die Agrarreform, im November Direktor der Nationalbank. In dieser Funktion unterbindet er Kapitalflucht und Preistreiberei. Als die Lage um Kuba sich im Gefolge der Agrarreform, Enteignung amerikanischer Industrieunternehmen und Banken und beginnender Boykottmaßnahmen der USA verschärft, reist G. Ende 1960 in die UdSSR und andere Länder des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe und sucht um Unterstützung nach. Im Februar 1961 Minister für Industrie und Mitglied des Zentralrats für Planung, zeichnet G. verantwortlich für die Verstaatlichung der Groß - und Mittelbetriebe und die Einpassung der in die Planaufgaben und den sozialistischen Wettbewerb. Nach der Kuba - Krise im Sommer 1962 verhandelt er mit der Führung der UdSSR den Abzug bzw. die Nichtstationierung der sowjetischen Raketen und die weitere wirtschaftliche und militärische Hilfe Osteuropas für Kuba. Bei der Schaffung der Vereinigten Partei der Sozialistischen Revolution (Kommunistische Partei Kubas) wird er Mitglied des Politbüros und des Sekretariats. Im März 1965 tritt G. letztmals in der kubanischen Öffentlichkeit auf. Zu diesem Zeitpunkt ist er schon lange mit der Vorbereitung einer neuen Guerilla in Bolivien beschäftigt. Es ist die Zeit des Vietnam - Kriegs, und auf der radikalen, eher voluntaristischen als objektivistischen Linken geht weltweit das Wort um von den zwei, drei, vielen Vietnam, die es im antiimperialistischen Kampf zu schaffen gelte. Im November 1966 trifft G. in Bolivien ein, im April 1967 eröffnet er die militärischen Operationen gegen die Regierungstruppen, im Oktober 1967 wird er gefangengenommen und ermordet.

Ho Chi Minh

Ho Tschi Minh (eigentlich Nguyen Sinh Cang, Pseudonym Nguyen Ai Quoc), 1890/Kim Lien bis 1969/Hanoi, vietnamesischer Revolutionär. Nach Oberschulbesuch in Hué zunächst Matrose und Hilfsarbeiter in England, USA und Frankreich, 1920 Gründungsmitglied der Französischen Kommunistischen Partei, nach 1925 Funktionär der Kommunistischen Internationale (KI) in China und Südostasien, 1930 Mitgründer der Kommunistischen Partei Indochinas in Hongkong, nach Verhaftungen Aufenthalte in Moskau und Yanan; 1940 Rückkehr nach Vietnam. 1941 war H. an der Gründung der Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Vietminh) maßgeblich beteiligt, rief am 2. September 1945 die Republik Vietnam aus. Nach Scheitern der Unabhängigkeitsverhandlungen mit Frankreich in Paris Führer des Widerstandskriegs, 1954 Staatspräsident der Demokratischen Republik Vietnam (Nordvietnam). H. formulierte seit 1925 in Abweichung von Prinzipien der KI solche der asiatischen Bauernrevolution, ohne jedoch ein geschlossenes theoretisches System zu hinterlassen und mit nur oberflächlichen Bezügen auf die marxistischen Theoretiker. Er betrachtete die Bauern als wichtigste revolutionäre Kraft unter Führung einer konspirativ arbeitenden Kaderpartei: Kampfmethode ist zunächst der Partisanenkrieg, nach dem Sieg wird der Aufbau eines Einparteistaats angestrebt. In seiner Unabhängigkeitserklärung (1945) enthaltene Hinweise auf die Declaration of Independence der USA nahm H. später nie wieder auf. Als Führer der nordvietnamesischen Laodong (Arbeiterpartei, seit 1951) war H. zugleich Organisator des Einparteisystems im Norden und des auf Bündnispolitik verschiedener Kräfte beruhenden Widerstands Südvietnams, der nach langen Kriegsjahren 1975 faktisch zur Unabhängigkeit des Südens, später zur forcierten Vereinigung gemäß den Bedingungen und Structuren des Nordens führte. H.s Mittlerposition zwischen den kommunistischen Parteien Chinas und der Sowjetunion gaben die Nachfolger zugunsten enger Bindung an die UdSSR (Mitgliedschaft im RGW) auf.

Kommunistische Partei / KPD / PCI

Italienische Kommunistische Partei (Partito Comunista Italiano PCI), gegründet 1921, als sich auf Druck der Kommunistischen Internationale eine linksradikale Gruppierung unter Führung von A. Bordiga und Gramsci von der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) abspaltete und als Partito Comunista dltalia konstituierte. Nach Überwindung ihrer revolutionärsektiererischen Frühphase entwickelte die Partei seit 1926 unter Gramsci und Togliatti (de facto ab 1926, formell von 1947 bis 1964 Generalsekretär) die theoretischen, strategischen und organisatorischen Voraussetzungen dafür, daß der PCI infolge seiner führenden Rolle im antifaschistischen Widerstandskampf zur stärksten Kraft der italienischen Linken wurde.
Gramscis Revolutionstheorie geht davon aus, daß die Hegemonie jeder führenden Klasse in Westeuropa auf zwei Pfeilern beruht: der »Herrschaft« (dominio) als Fähigkeit zur gewaltsamen Unterdrückung der feindlichen Klassen und der »Leitung« (direzione) als Fähigkeit zur Bildung eines breiten Konsenses in der Gesellschaft. Verliert die Bourgeoisie ihre Fähigkeit zur »Leitung« modern: zur »Meinungsführerschaft« —, so gerät unvermeidlich auch ihre »Hegemonie« in eine Krise. Die Aufgabe der Arbeiterklasse und ihrer KP sah Gramsci daher darin, noch im Rahmen der »Hegemonie« der Bourgeoisie den gesellschaftlichen Rückhalt für die Kommunisten zu erweitern, um mit der Bildung eines neuen »Historischen Blocks« (d.h. eines neuen stabilen Klassenbündnisses) selbst die »Leitung« und anschließend die »Hegemonie« in Staat und Gesellschaft zu übernehmen. Der Staat ist damit nicht wie bei Lenin die in einem einzigen revolutionären Stoß zu zerbrechende Unterdrückungsmaschinerie; vielmehr ist er umkämpft und bietet in seiner reichen Gliederung der Arbeiterklasse die Chance, ihn von innen her in sozialistischer Richtung zu transformieren.
Programmatisch knüpften Togliatti und dessen Nachfolger L. Longo (1964—72), Berlinguer (1972—84) und A. Natta (seit 1984) an diese Konzeptionen Gramscis an, wobei für sie die Lehren aus dem Faschismus eine zentrale Rolle spielten. Der Faschismus hatte seine Stoßkraft vor allem daraus bezogen, analysierte Togliatti, daß er eine Massenbasis gewinnen konnte. Die Kommunisten müßten daher ihre traditionellen, mit verbalradikalem Maximalismus verbundenen sektiererisch - abwartenden Positionen überwinden und durch konstruktive Reformarbeit im bestehenden Staat die Massen auf ihre Seite ziehen. Noch im Widerstand konzipierte Togliatti den PCI daher — in Abgrenzung zur »Partei neuen Typs« stalinistischer Prägung — bewußt als »neue Partei« (partito nuovo) und stellte damit die Weichen für die Zukunft. Parteiorganisatorisch bedeutete dies die Transformation des PCI von einer Kaderpartei in eine Massenpartei mit breiter Verankerung auch in den Mittelschichten. Tendenziell entwickelte sich der PCI so von einer um die Arbeiter zentrierten Klassenpartei zu einer klassenübergreifenden Volkspartei mit dem Ziel, »in alle Poren der Gesellschaft einzudringen« (Togliatti) und sie von innen zu verändern. Am besten gelang ihm dies zunächst in dem genossenschaftlich - kleinindustriell geprägten »roten Gürtel« Mittelitaliens (Emilia - Romagna, Toskana, Umbrien), wo sich noch heute rund 40% der PCI - Mitgliedschaft konzentrieren. Strategisch lief diese Linie auf die Ablehnung der »griechischen Perspektive« einer gewaltsamen Machteroberung zugunsten der Mitarbeit am Aufbau einer »fortschrittlichen Demokratie« (democrazia progressista) hinaus, die den notwendigen und konsensorientierten Rahmen für die schrittweise Durchsetzung tiefgreifender und letztlich systemüberwindender politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturreformen bilden sollte. Zur Charta dieser fortschrittlichen Demokratie wurde die unter aktiver Mitwirkung des PCI erarbeitete, bis heute gültige Verfassung Italiens von 1947; die Forderung nach Ausfüllung ihrer fortschrittlichen wirtschafts - und sozialpolitischen Aufträge bildet geradezu die Essenz des damals proklamierten »italienischen Wegs« und des heute angestrebten »Dritten Wegs« zum Sozialismus.
Bündnispolitisch schließlich zielte der PCI auf eine langfristige, stabile Zusammenarbeit nicht nur mit dem PSI, sondern auch mit den Christdemokraten (DC) als den Repräsentanten der breiten katholischen Volksmassen (von daher die Zustimmung des PCI zur Integration der Lateranverträge von 1929 in die Verfassung). Nur in einer gemeinsamen Anstrengung der drei großen geistig - politischen Strömungen der Demokratie in Italien sah der PCI die Chance, ein Wiederaufleben des Faschismus zu verhindern, die ideologische Spaltung des Landes zu überwinden und die gesellschaftspolitische Achse nach links zu verschieben. Konzipiert als »Regierungspartei« mit dem Ziel, tatsächlich konkret »Politik zu machen« (Togliatti), arbeitete der PCI bis zu seiner Ausbootung im Mai 1947 in den ersten Nachkriegskabinetten aktiv mit. Bei allen bündnispolitischen Varianten Volksfront - Pakt mit dem PSI 1948—56, »historischer Kompromiß« mit der DC 1973—80, »demokratische Alternative« mit dem PSI seit 1980) hält der PCI an dieser Grundlinie bis heute fest. Jüngstes Beispiel hierfür sind die Regierungen der »nationalen Solidarität« von 1976 bis 1979, als die Kommunisten DC - geführte Kabinette von außen stützten und stufenweise schließlich auch (als Partner einer De - facto - Koalition im Parlament) in die Ausarbeitung des Regierungsprogramms einbezogen wurden.
Die gegenwärtige Linie des PCI hat ihren zentralen Bezugspunkt in der Programmatischen Erklärung von 1956, nachdem sich die Partei zuvor nur widerstrebend der Disziplin des - »Kominform unterworfen hatte. Im Zeichen der Entstalinisierung distanzierte sich die Parteiführung ausdrücklich von der im PCI noch weit verbreiteten »doppiezza« (etwa: Doppeldeutigkeit oder Doppelzüngigkeit) — also von jener parteiintern lange genährten Vorstellung, die Neuerungen seien nur eine rafT1nierte taktische Variante, die man in einem günstigen Zeitpunkt zugunsten einer Revolution nach sowjetischem Muster aufgeben werde. Kernstück der seit 1956 verfolgten Linie bildet die Forderung nach einer demokratischen Wirtschaftsprogrammierung (wobei weitere Verstaatlichungen angesichts des schon heute vergleichsweise umfangreichen öffentlichen Sektors nicht vorgesehen sind). Sie läuft darauf hinaus, auf der Grundlage einer längerfristigen Prognose für alle Bereiche der Volkswirtschaft umfassende Zielprojektionen zu entwerfen und diese durch ein flexibles System staatlicher Rahmenplanung zu verwirklichen. Hierbei bejaht der PCI heute die Notwendigkeit industrieller Modernisierung und versucht (z. B. in Turin), diese in Absprache mit den Unternehmern unter humanen und sozialen Aspekten fortschrittlich zu gestalten.
In dieser Strategie, schon heute »Elemente des Sozialismus« in Staat und Gesellschaft einzuführen (Berlinguer), bildet die politische Demokratie (einschließlich der freien Mehrheitsbildung) für den PCI seit 1956 die Grundlage für den Weg zum Sozialismus wie auch für den Sozialismus selbst. Zugleich bekennt er sich vorbehaltlos zum politischen und sozialen Pluralismus, d. h. er überwand den bei Gramsci noch vorhandenen umfassenden oder »totalisierenden« (Vorstandsmitglied P. Ingrao) Anspruch der Partei und verstand sich hinfort ausdrücklich als — freilich fortschrittlichster, zur Hegemonie drängender »Teil« der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund tritt der PCI dafür ein, die repräsentative Demokratie stärker mit basisdemokratischen Impulsen aus den Kommunen, Betrieben, Bildungsinstitutionen usw. zu verbinden. Struktur und Organisation des PCI unterstreichen dessen Charakter als Klassen - und Volkspartei. Unter den 1619000 Mitgliedern (1984) bilden die Industriearbeiter mit 38, 7% nach wie vor das Rückgrat der Partei (Handwerker, Händler, Kleinunternehmer: 9, 3 %; Angestellte, Leitungspersonal: 7, 0%; Landarbeiter: 4, 0%; Bauern, Halbpächter: 3, 0%; Lehrpersonal, Freiberufler: 2, 7%; Hausfrauen, Rentner: 28, 5 %). Je höher die Führungsorgane, desto geringer ist freilich der Arbeiteranteil zugunsten von Angehörigen der Intelligenz: Unter den 36 Mitgliedern des Parteivorstands z. B. befanden sich 1979 mindestens 18 Vollakademiker; die meisten übrigen hatten einen Oberschulabschluß mit oft mehrjährigem Studium. Der Anteil der Frauen unter den Mitgliedern beträgt 28, 5. Zusammengehalten wird das gesamte Organisationsgefüge durch einen harten Kern von rund 180000 Kadern, die nicht zuletzt als Mandats - und Funktionsträger in den Kommunen die stärksten Stützen der politischen und sozialen Präsenz des PCI bilden. Ein wichtiges Indiz für
Charakter und Selbstverständnis der Partei vermittelt die Zusammensetzung ihrer knapp Grundorganisationen (1983): Neben den 11 800 Sektionen (»Ortsvereinen«) spielen die 1200 Betriebsparteiorganisationen nur eine untergeordnete Rolle. Insgesamt war die Mitgliederzahl des PCI starken Schwankungen unterworfen (1954: 2145000; 1968: 1502000; 1977: 1814000); seit Ende der 70er Jahre ist sie erneut leicht rückläufig. Wie viele sozialdemokratische Parteien hat der PCI Rekrutierungsschwierigkeiten in den urbanen Zentren, bei insgesamt negativer Entwicklung der Altersstruktur (1984 waren nur 3, 2% der Mitglieder unter 25 Jahre alt, nicht eingeschlossen die etwa 70000 Mitglieder des PCI - Jugendverbandes, unter denen freilich schon viele gleichzeitig in der Partei organisiert sind).
Die für die Kommunisten wichtigste Vorfeldorganisation ist die CGIL, die größte der drei Richtungsgewerkschaften Italiens mit einer starken sozialistischen Minderheitskomponente. Unter Vorsitz von L. Lama (PCI) hat sie sich einen gewissen Freiraum gegenüber der Partei erkämpft und drängt den PCI sogar umgekehrt zur Akzentuierung seines Reformismus.

Einen weiteren wichtigen Stützpfeiler des PCI bildet die — ebenfalls gemeinsam mit den Sozialisten betriebene — Nationale Genossenschafts - und Kreditkassen - Liga mit ihren rund 9000 angeschlossenen Genossenschaften. Über den landwirtschaftlichen Produktions - und Konsumbereich hinaus entfaltet sie Aktivitäten im Bauwesen, in Industrie und Handwerk, im Transportwesen und auf dem Dienstleistungssektor. Schließlich seien als PCI - nahe Verbände noch genannt: die Frauenvereinigung mit 91850 Mitgliedern (1975), der Partisanenverband mit 160000 Mitgliedern (1977) sowie der Nationale Bauernbund mit 149000 Landwirten (1976). Das PCI - Zentralorgan LUnitå ist mit knapp 300000 Exemplaren noch immer eine der auflagenstärksten Tageszeitungen des Landes.
Der Trend des PCI zur klassenübergreifenden Volkspartei findet seine Bestätigung in der Sozialstruktur der PCI - Wählerschaft, die sich bereits 1975 nicht mehr grundsätzlich von derjenigen der DC unterschied (gelernte Arbeiter, Bauern: 25, 8% bzw. 31 %; ungelernte Arbeiter, Landarbeiter: 41, 6% bzw. 32%; Angestellte, Händler usw.: 21, 8 % bzw. 22, 5%; leitende Angestellte, Intelligenz: 10, 8% bzw. 14, 5%). Mit 33, 3 % der Stimmen bei den Europawahlen vom Juni 1984 wurde der PCI erstmals sogar stärkste Partei des Landes (DC: 33 %). Dabei bestätigte er mit einem Ergebnis von knapp 50% seine traditionelle Hegemonie in Mittelitalien und festigte darüber hinaus seine Positionen unter den Arbeitern und den neuen Mittelschichten des Nordens (Beispiele: Turin: 39, 2 %, Genua: 41 %).
Diese Transformation des PCI in eine marxistisch inspirierte, klassenübergreifende Reform - und Volkspartei fand ihren Niederschlag in der Revision des früher geltenden Prinzips einer primär weltanschaulichen Bindung der Parteimitglieder (an den Marxismus - Leninismus) zugunsten der Betonung des »weltlichen und rationalen Charakters« der Partei. Damit zog der PCI die logische Konsequenz aus der Akzeptierung der politischen Demokratie westlichen Typs und seiner daraus folgenden Strategie, in einer komplexen und von unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Strömungen und Interessen geprägten Gesellschaft ihren Einfluß auf der Basis umfassender Präsenz geltend zu machen. Der PCI beschränkte die Voraussetzung für die Mitgliedschaft auf die Zustimmung zum politischen Programm der Partei und unterstrich seine Absicht, sich bei dessen »eigenständiger Ausarbeitung mit allen Strömungen des modernen Denkens zu messen« (Statuten - Neufassung von 1979).
Konsequenterweise liquidierte der PCI 1983 den Demokratischen Zentralismus traditionellen Typs, indem er die (faktisch seit langem vorhandene) Existenz divergierender Strömungen und Tendenzen sowie das Prinzip der freien Mehrheitsbildung auch für den inneren Funktionsmechanismus der Partei legitimierte (betont wird seither u.a. die Transparenz der Willensbildung auf allen Ebenen, die horizontale Kommunikation der Parteigliederungen, die Offenheit der Parteipresse für unterschiedliche Positionen).
Diese innere Offenheit und Flexibilität des PCI, die tendenziell auf die Akzeptierung eines für die heutige Sozialdemokratie charakteristischen weltanschaulichen Begründungspluralismus hinausläuft, ist eine der zentralen Ursachen für seine Fähigkeit zur Integration unterschiedlicher politischer, sozialer und kultureller Strömungen und Gruppen (Mittelschichten, Linkskatholiken, linkssozialistische Richtungsgruppen in Italien).
Die internationalen Beziehungen des PCI sind geprägt vom Konzept eines »neuen Internationalismus«, der seinen außen - und sicherheitspolitischen Rahmen in einer konstruktiv - kritischen Option für den Westen findet. Seit 1956 verwirft er die Vorstellung von der Existenz eines Führungsstaates und einer Führungspartei in der Kommunistischen Weltbewegung. Im Anschluß an die Ereignisse von Afghanistan (1979) und Polen (1981) erklärte er den Realsozialismus sowjetkommunistischen Typs überhaupt als »in seiner Triebkraft erschöpft«. Nach einer langen und widersprüchlichen Phase des Autonomiestrebens im Zeichen der Formeln »Polyzentrismus« und »Einheit in der Vielfalt« (Togliatti) entschloß sich die PCI - Führung 1982 zu dem spektakulären Schritt, den Beziehungen zur KPdSU und zu den anderen KPen ihren privilegierten Charakter zu nehmen. Der PCI trat nun auch parteioffiziell heraus aus dem engen System der Moskau - orientierten kommunistischen Bewegung, in dem er seit der Oktoberrevolution seinen zentralen ideologisch - politischen Bezugspunkt gesehen hatte. Eine vorbehaltlose Anlehnung an die sowjetische Außenpolitik im Sinne der traditionellen Zwei - Lager - Theorie wurde von ihm als geradezu »selbstmörderisch« (Berlinguer) verworfen und durch die Ankündigung der Absicht ersetzt, die Sowjetführung von Fall zu Fall an ihrem außenpolitischen Handeln zu messen. Statt dessen akzeptiert der PCI seit den 70er Jahren die Bindungen Italiens im Rahmen der westeuropäischen und atlantischen Zusammenarbeit; 1977 unterzeichnete er gemeinsam mit den übrigen Parteien des italienischen »Verfassungsbogens« entsprechende Parlamentsresolutionen. Dabei mißt er in einem »multipolaren« internationalen System der Europäischen Gemeinschaft zentrale Bedeutung bei: Im Rahmen der Atlantischen Allianz müsse die EG das spezifische europäische Interesse, Gewicht und Selbstbewußtsein stärker zur Geltung bringen und als Faktor des Ausgleichs und der Zusammenarbeit nicht nur europäisch - regional, sondern global besondere Verantwortung übernehmen. Dabei denkt der PCI vor allem an eine aktive Beeinflussung des Krisenverhaltens der beiden Supermächte mit dem Ziel der Wiederaufnahme des Ost - West - Entspannungsprozesses, aber auch an die Herstellung eines Verhältnisses gleichberechtigter Partnerschaft mit den Ländern der Dritten Welt (nicht zuletzt als Alternative zur Anlehnung dieser Staaten an eine der beiden Supermächte). Europa und die westeuropäische *Arbeiterbewegung wüchsen in eine Rolle hinein, die sie zum »Epizentrum der neuen Phase des Kampfes für den Sozialismus« machten (Berlinguer 1982).
Aus der Sicht des PCI tritt die Arbeiterbewegung des Westens damit — nach dem Scheitern der Zweiten Internationale und der Degeneration der Kommunistischen Internationale — in eine »dritte Phase« (Berlinguer) ein, in der sie ihren historischen Eurozentrismus überwindet und sich global für Entspannung, Selbstbestimmung und sozialrevolutionären Wandel engagiert. Seine wichtigsten Ansprechpartner sieht der PCI dabei in den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Westeuropas, darunter besonders in der SPD. Ohne die jeweils eigene Geschichte und Identität zu verleugnen, sollten Kommunisten und Sozialisten »über eine kritische Gegenüberstellung einen Prozeß einleiten, der auf die Überwindung der historischen Divergenzen und auf die Wiedervereinigung der Arbeiterbewegung Westeuropas zielt« (Thesen des XV. Parteitags von 1979).
Perspektiven. Mit seinem Programm »permanenter konstruktiver Veränderung der gesellschaftlichen Tiefenstrukturen« (K. Priester) hat der PCI zweifellos einen originären »Dritten Weg« zwischen der klassischen Sozialdemokratie einerseits (Aufbau einer »Gegengesellschaft« als Fundament eines zukünftigen Sozialismus) und dem klassischen Leninismus andererseits (radikale Strukturänderungen nach der Machteroberung) eingeschlagen. Die Übernahme zentraler Grundwerte demokratisch verfaßter Gesellschaften durch den PCI sowie sein Selbstverständnis als »große moderne Reformpartei« (Vorstandsmitglied A. Reichlin) verweisen jedoch darauf, daß die stärkste und einflußreichste KP des Westens inhaltlich rasch der sich ihrerseits erneuernden Sozialdemokratie näher rückt. Damit aber erwachsen ihm — ähnlich wie den Sozialdemokraten — neue Aufgaben und neue Probleme. Welche Modelle gibt es, um in der Krise des Wohlfahrtsstaates die sozialen Sicherheiten in ihrer Substanz zu erhalten? Wie können Ökonomie und Ökologie in Einklang gebracht sowie die notwendigen technologischen Umstrukturierungen in Betrieb und Verwaltung sozial gesteuert und human gestaltet werden? Wie soll die Partei auf die Schrumpfung und Ausdifferenzierung der Arbeiterklasse (als dem traditionellen revolutionären Subjekt) reagieren, wie den Wertwandel unter den Jugendlichen und den neuen Mittelschichten in ihrem politischen Projekt integrieren?
Dies sind die zentralen Diskussionpunkte im PCI, im Vergleich zu denen die überkommenen innerparteilichen Konfliktlinien zwischen prosowjetischen Traditionalisten wie A. Cossutta und Sowjetkritikern wie L. Lombardo - Radice, zwischen »Basisdemokraten« wie Ingrao und Befürwortern parteipolitischer Spitzenabkommen wie G. Amendola weitgehend bedeutungslos geworden sind. Maßgebend für die Chancen zur Erringung der Hegemonie im Sinne der »Meinungsführerschaft« ist heute die Fähigkeit des PCI, die programmatische Innovation mit der sozialen und wertemäßigen Integration der verschiedenen innerparteilichen Strömungen zu verbinden.

Bruno Kreisky

Kreisky, Bruno, geb. 1911 in Wien als Sohn einer Industriellenfamilie, schloß sich 1926 der sozialdemokratischen Jugendbewegung an. Trotz anfänglicher Widerstände wegen seiner großbürgerlichen Herkunft wurde er 1933 Obmann des Reichsbildungsausschusses der Sozialistischen Arbeiterjugend. Nach der schweren Niederlage der österreichischen Arbeiterbewegung im Februar 1934 gegen den Austrofaschismus und dem Verbot aller Arbeiterorganisationen (Republikanischer Schutzbund) wurde K. Obmann der illegalen Revolutionären Sozialistischen Jugend in Wien. Im Januar 1935 wurde er verhaftet und errang mit einer brillanten Verteidigungsrede im »Sozialistenprozeß« vom März 1936 zum erstenmal internationale Aufmerksamkeit. Im Mai 1936 wurde K. enthaftet und setzte seine illegale Tätigkeit fort. Nach dem »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 wurde er erneut verhaftet, konnte aber das Land im September verlassen. Er ging nach Schweden, war dort führend in der österreichischen Exilpolitik tätig und arbeitete nach Kriegsende als österreichischer Interessenvertreter (später in der österreichischen Gesandtschaft) in Stockholm.
Ende 1950 kehrte K. nach Wien zurück, wurde in das Außenamt berufen und dort im April 1953 Staatssekretär der SPÖ/ÖVP - Koalitionsregierung. In dieser Funktion war er aktiv am Zustandekommen des österreichischen Staatsvertrags vom Mai 1955 beteiligt. Im November 1956 wurde K. in den Parteivorstand der SPÖ gewählt, seit 1957 gehörte er der Parteiexekutive an, 1959 wurde er stellvertretender Parteivorsitzender. Im Juli 1959 wurde K. Außenminister im Kabinett Raab III und verblieb in dieser Funktion bis zur Alleinregierung der ÖVP (1966 - 70). Im Februar 1967 übernahm K. den Parteivorsitz und führte 1970 die Partei zu ihrem ersten Sieg bei Nationalratswahlen in ihrer Geschichte (1970 relative Mehrheit, ab Oktober 1971 absolute Mehrheit). Bis zum April 1983 stand K. vier SPÖ - Alleinregierungen als Bundeskanzler vor; in diese Zeit fiel eine umfangreiche Reformphase in der österreichischen Innenpolitik (Familienrechts -, Strafrechts -, Schul - und Universitätsform; Reform der Sozialgesetze und der Gewerbeordnung). Nach dem Beginn der Wirtschaftskrise vertrat K. seit 1974 die Politik des »deficit spending« nach J. M. Keynes; außenpolitisch engagierte er sich vor allem für eine friedliche Beilegung des Nahostkonflikts und für einen Marshallplan für die Länder der + Dritten Welt. Im November 1976 wurde K. zu einem der Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationale gewählt. Nach dem Verlust der absoluten SPÖ - Mehrheit im April 1983 trat K. als Bundeskanz1er, im Herbst 1983 auch als Parteivorsitzender zurück und ist seither Ehrenvorsitzender der SPÖ.

Ferdinand Lassalle

Lassalle, Ferdinand, 1825/Breslau—1864/Genf, stammte aus großbürgerlicher Familie. Der frühreife, talentierte und vielseitig begabte L. entschied sich zur Karriere eines freien Schriftstellers und Forschers nach dem Vorbild K. L. Börnes und H. Heines. Als jüdischer Außenseiter fühlte er sich zu dem Emanzipationsstreben der Französischen Revolution hingezogen, das er mit Hegelscher Philosophie untermauerte. Anders als die Junghegelianer und Marx und aktivierte er wohl das Gedankensystem, nahm in ihm aber keine strukturellen Änderungen vor. Er war zeitlebens strikter Hegelianer, der alle seine revolutionären Theorien auf diesen zurückführte, ohne auf Denkelemente wie die der französischen Sozialisten und der englischen klassischen Nationalökonomie zu verzichten, soweit sie sich Hegel unterordnen ließen. Die gemeinsame Hegelsche Grundlage ermöglichte es ihm auch, Gedankenelemente von Marx zu übernehmen; sie gibt seinem Denken eine gewisse Affinität zu Marx, die die Marx - wie die L. - Rezeption in der deutschen Arbeiterbewegung sehr erleichtert haben.
Als Anwalt der Enterbten nahm sich der junge L. erst des Dichters H. Heine und dann der Gräfin Sophie v. Hatzfeldt an, deren Verteidigung gegen ihren grausamen Mann er bis zu einem günstigen Erfolg im Jahre 1854 aufopferungsvoll führte. Auf diesen Erfolg gründete er auch eine gesicherte Existenz für sich selbst. Die Gräfin Hatzfeldt war L. nicht nur Freundin und Gefährtin, sondern auch eine effektive Parteigängerin aus eigener Überzeugung. Sie hat auch viel zur Verbreitung von L.s Schriften beigetragen.
Während der Revolution von 1848/49 machten L. und seine Anhänger Düsseldorf zu einer ebenbürtigen Rivalin Kölns als revolutionärem Zentrum der Partei der Neuen Rheinischen Zeitung, deren Haupt Marx war. Während der zehnjährigen Reaktionszeit wagte es nur L., dauernden Kontakt mit Marx aufrechtzuerhalten und die Erneuerung der Revolution in Deutschland selbst vorzubereiten. Zu dieser Erneuerung gehörte nicht nur die Heranziehung junger Kader in Düsseldorf und im Bergischen Land, auf die er bei der Gründung der Arbeiterbewegung im Jahre 1863/64 zurückgreifen konnte, sondern ebenso die Ausarbeitung theoretischer Schriften, aus denen seine Agitation mühelos schöpfen konnte. Zu diesen Bemühungen gehörte auch der langjährige Versuch, in Berlin Fuß zu fassen, in dem er das Zentrum der kommenden Ereignisse frühzeitig erkannte.
In der Neuen Ära eines liberalisierenden preußischen Regimes seit 1858 versuchte er, die Opposition im Deutschen Nationalverein und in der Deutschen Fortschrittspartei in Preußen zu revolutionärer Haltung anzuregen. In seinem Drama Franz von Sickingen (1858) versuchte er, die revolutionären Folgerungen aus der deutschen nationalen Frage zu ziehen, ebenso in seinen verschiedenen literarischen Forschungen und Aufsätzen. In seinen Reden über Verfassungsfragen war er bestrebt, die praktischen Folgerungen aus seinen theoretischen Grundsätzen für das politische Verhalten im Verfassungskonflikt zu ziehen, praktische Überlegungen, die auch heute noch jede parlamentarische Opposition gegen ein Regime des Unrechts befruchten können. Als dann der Nationalverein es unternahm, die werdende Arbeiterbewegung als Resonanzboden für seine politischen Zwecke einzuspannen, beschloß L. gegen Jahresende 1862, der Arbeiterbewegung ein soziales wie ein politisches Aktionsprogramm anzubieten, das sie als soziale Demokraten kenntlich machen würde. Das Leipziger Zentralkomitee, das im Auftrag des Nationalvereins einen Arbeiterkongreß vorbereiten sollte, machte er mit der Idee des Arbeiterstandes bekannt (einen Vortrag, den er vor Berliner Arbeitern gehalten hatte und als Arbeiterprogramm bekannt wurde) und überzeugte damit eine große Mehrheit. So bereitete er auf Einladung der Leipziger Arbeiter das Offene Antwortschreiben vor. das als Programmschrift für einen Allgemeinen deutschen Arbeiterverein (ADAV) gedacht war und als solche das politische Moment des gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts mit dem sozialen Moment der Inbesitznahme des Betriebsgewinns durch die Arbeiter in der Assoziation ersann, indem die Arbeiter durch den Staatskredit instand gesetzt wirden, kooperativ zu schaffen. Diese sozial motivierte Demokratie überzeugte die fachlichen Handarbeiter sofort, da sie daran glaubten, das sie wohl imstande sein würden, eine Assoziationsfabrik erfolgreich zu leiten. Das Programm wurde in verschiedenen Arbeiterversammlungen angenommen, und der ADAV unter der Präsidentschaft von L. trat am 23. Mai 1863 in Leipzig ins Leben. Trotz der zündenden Idee wuchs ADAV nur schwer, weil die Arbeitgeber und die Polizei alles aufboten, die neuartige Partei aufkommen zu lassen. Deshalb hatte der ADAV beim Tode L.s bei optimistischer Einschätzung etwas mehr als 4000 Mitglieder, aber die Idee des »vollen Arbeitsertrages« hatte noch auf Jahre hinaus einen zündenden Einfluß auf die Zielvorstellungen der Arbeiter.
L. hat den ADAV dem Nationalverein nachgebildet, nur daß er anstelle einer oligarchischen Spitze und einer Diktatur des Ausschusses die Präsidialdiktatur setzte. Diese Präsidialdiktatur im ADAV stark umstritten, wurde von einer Minderheit bekämpft, aber von S. v. Hatzfeldt aufrechterhalten und hat sich schließlich als Kanpfmittel unter der Präsidentschaft des J. B. von Schweitzer durchgesetzt.
L.s Propagandareden, wie die in Frankfurt (Arbeiterlesebuch), die Ansprache an die Arbeiter Berlins, die sogenannte Heerschaurede oder die Rede zu Ronsdorf, wurden alle gedruckt und verbreitet, ebenso wie die Gerichtsreden, die sich mehr an den Leser als an das Gericht wendeten. Besonders bedeutend aber ist seine Darlegung einer Nationalökonomie für Arbeiter, die diese von der bürgerlichen Entbehrungs - und Sparökonomie befreien wollte (Herr Bastiat - Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Capital und Arbeit). Aufgrund dieser Darlegung konnten sich der ADAV und die Gegenbewegung des Verbandes Deutscher Arbeitervereine als Gegner des Kapitalismus erkennen und sich vereinen (1875).
Ehe moderne Untersuchung der Vertriebs - und Verlagsgeschichte der Schriften L.s beweist, daß er während des ganzen 19. Jh. in der deutschen Arbeiterbewegung nicht seinesgleichen in der Rezeptionsgeschichte sozialistischer Ideen hat. Auch den Anfängen anderer Arbeiterbewegungen anderen Ländern steht zu Beginn immer L. Sein Ende im Duell um eine Dame hat keine Beziehung zu dem Arbeiterführer L., auch wenn verschiedentlich versucht wurde, den Duelltod entweder als Kronzeugen oder als Racheakt gegen den (verhaßten) Arbeiterführer darzustellen.

Wladimir Iljitsch Lenin

Lenin, Wladimir Iljitsch (eigentlich W. I. Uljanow), 1870/Simbirsk—1924/Gorki bei Moskau. Gemessen an seinen Wirkungen als politischer Schriftsteller und Revolutionär war L. eine der erfolgreichsten Persönlichkeiten der modernen Arbeiterbewegung, unabhängig von der politisch - moralischen Beurteilung seines Lebenswerks. Die von ihm geführte russische Oktoberrevolution Russische Revolutionen 1917) und sein von den Nachfolgern zum Marxismus - Leninismus verfestigtes Denken haben die Entwicklungen in der Welt seither direkt und indirekt in kaum zu überschätzendem Ausmaß beeinflußt.
L. stammte aus einer kleinbürgerlichen russischen Familie. Nach Jurastudium und kurzer Tätigkeit als Anwalt widmete er sich ganz der politischen Arbeit und verkörperte in herausragender Weise den von ihm für die sozialistische Revolution geforderten Typ des intellektuellen Berufsrevolutionärs. 1895 gründete er den Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse, 1897 wurde er für drei Jahre in sibirische Verbannung geschickt. Hier entstand L.s für die innersozialistischen Auseinandersetzungen in Rußland (gegen die Volkstümler) wichtige Schrift Die Entwicklung des Sozialismus in Rußland (1899). Nach rückhaltloser Übernahme eines Marxismus, wie er ihn verstand (»Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist«), wollte er nachweisen, daß Rußland den von Marx beschriebenen Weg des Kapitalismus längst eingeschlagen habe und daher auch zu Ende gehen müsse, um den Sozialismus zu erreichen. 1898 Ehe mit der sozialistischen Revolutionärin Nadeshda Krupskaja. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung ging L. 1900 ins Exil und wirkte als Mitherausgeber der Zeitschrift Iskra, mit der er wachsenden Einfluß auf die marxistischen Revolutionäre in der 1898 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) gewann.
L.s zahlreiche theoretische Schriften entstanden fast ausnahmslos in der direkten Auseinandersetzung mit politischen Gegnern innerhalb der russischen Arbeiterbewegung und dienten der aktionsbezogenen Analyse und der Durchsetzung unmittelbarer politischer Interessen. 1903 kam es auf L.s Betreiben auf dem II. Parteitag der SDAPR zu deren historischer Spaltung in den von L. geführten Flügel der Bolschewiki (Mehrheitler) und Menschewiki (Minderheitler). Anlaß war die in L.s Buch Was tun? (1902) entwickelte Parteitheorie, derzufolge revolutionäre marxistische Politik nur von einer Partei neuen Typs durchgeführt werden kann, die durch einheitliche marxistische Theorie, zentrale Führung und disziplinierte Hingabe aller Parteimitglieder gekennzeichnet ist (später »Demokratischer Zentralismus« genannt). Grundlage der Legitimation und des Handelns dieser Partei wurde ein mehr und mehr zur umfassenden Weltanschauung ausgeweiteter Marxismus. Die religiös gebundenen Massen des rückständigen Rußland wollte L. durch eine atheistisch - materialistische Weltanschauung vom Einfluß der Kirche und des Zarismus lösen. Daher war für ihn die Ausarbeitung des Marxismus als Weltanschauung, die schon von Engels begonnen worden war, ein politisches Grundbedürfnis und wesentliches Element der marxistischen Theorie und Parteidoktrin. Diesem Interesse entsprang auch L.s philosophisches Hauptwerk Materialismus und Empiriokritizismus (1908).
Im Exil während des I. Weltkrieges erarbeitete L. seine Theorie des *Imperialismus. Seine theoretische Definition des »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« (1917) mit den Hauptkennzeichen des Monopolismus, des Verschmelzens von Industrie - und Finanzkapital, der wachsenden wirtschaftlichen Rolle des Staates sowie dem Drang der imperialistischen Nationalstaaten zur Expansion ist nicht originell. Neu und einflußreich für die weitere Entwicklung war aber seine politische Schlußfolgerung, daß infolge der wachsenden internationalen Verflechtung des imperialistischen Weltsystems die sozialistische Revolution nicht notwendigerweise von den am meisten entwickelten kapitalistischen Zentren ausgehen müsse, sondern auch vom »schwächsten Kettenglied« ausgelöst werden könne.
L., 1907—14 Delegierter im Büro der II. Internationale, war über deren Zusammenbruch zu Beginn des I. Weltkriegs tief enttäuscht und engagierte sich für einen neuen Internationalismus in der Zimmerwalder Bewegung. Kurz nach dem Sieg der »bürgerlichen« Februarrevolution kehrte L. 1917 nach Rußland zurück und setzte mit seinen Aprilthesen gegen das Widerstreben vieler seiner bolschewistischen Kampfgenossen die proletarische Revolution auf die Tagesordnung Rußlands. Er erwartete das baldige Nachfolgen proletarischer Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern des Westens. Für den Sieg der Revolution wollte er die zu dieser Zeit in Rußland, besonders in der Hauptstadt Petersburg, machtvolle und populäre Rätebewegung nutzen. In seinem wenige Monate vor der Oktoberrevolution verfaßten Werk Staat und Revolution begründete er diese Verbindung von Rätedemokratie und proletarischer Revolution unter Rückgriff auf Marx Analyse der Pariser Kommune.
L. hat es stets verstanden, seine objektivistische Geschichtsauffassung mit einem überaus flexiblen und energischen Aktivismus zu verbinden. Der Sieg der Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917 und die Befestigung der Herrschaft ihrer Partei danach war in hohem Maße dem persönlichen Wirken L.s zu verdanken. Als Führer seiner Partei (nun Kommunistische Partei Rußlands) und Vorsitzender des Rates der Volkskommissare setzte er in einer Situation des Bürgerkriegs das Verbot aller anderen sozialistischen Parteien und der Bildung von Fraktionen innerhalb der eigenen Partei durch. Den Aufstand der Kronstädter Matrosen, die eine Wiederbelebung der Räteidee gegen die bolschewistische Vorherrschaft erzwingen wollten, ließ er 1921 blutig niederschlagen. Er ordnete alles andere dem Ziel unter, die erkämpfte Macht gegen innere Gegner und äußere Feinde zu behaupten. In der Auseinandersetzung mit der von Kautsky vertretenen Position des Demokratischen Sozialismus rechtfertigte er diese Praxis und baute sie zu einer Theorie der uneingeschränkten und unwiderruflichen Herrschaft der kommunistischen Partei in der Phase der Diktatur des Proletariats aus.
Revolutionäre Ansätze zu einer Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben wurden durch das Direktorialsystem ersetzt, die Gewerkschaftsarbeit vollständig den Parteidirektiven untergeordnet. L. baute Andeutungen von Marx zu der Lehre aus, daß einem längeren Entwicklungsstadium des Sozialismus mit repressiver Staatsgewalt später ein herrschaftsfreier Kommunismus als eigentliches Ziel der Revolution folgen werde. In seiner Revolutionstheorie verlagerte sich das Sturmzentrum der Weltrevolution immer mehr in die von den imperialistischen Staaten ausgebeuteten Kolonien, da er die westeuropäischen Arbeiterklassen, vor allem ihre Funktionäre, für korrumpiert und — durch die Vorteile der Kolonialpolitik ihrer Länder — bestochen hielt.
Die 1919 unter seinem Einfluß gegründete Kommunistische Internationale verpflichtete ihre Mitgliedsparteien auf von L. selbst formulierte 21 Bedingungen, durch die seine Staats -, Partei - und Revolutionstheorie für die Kommunistische Weltbewegung für lange Zeit verbindlich wurden. Kurz vor seinem frühen Tod, der die Folge eines Attentats war, kritisierte L. selbst die sich abzeichnenden Fehlentwicklungen im Sowjetstaat und warnte vor einer Machtübernahme Stalins. Dieser konnte sich indessen bei seiner dogmatischen Verfestigung der Leninschen Theorien zum Marxismus - Leninismus und bei der Errichtung seiner bürokratischen Schreckensherrschaft in hohem Maße auf das stützen, was L. geschaffen hatte.

Karl Liebknecht

Liebknecht, Karl, 1871/Leipzig - 1919/Berlin, Sohn von Liebknecht, Patensohn von Marx. L. promovierte 1897 mit einer rechtswissenschaftlichen Dissertation und quittierte nach dem Assessorexamen den Staatsdienst. Er ließ sich als Anwalt nieder und schloß sich 1900 auch offiziell der Sozialdemokratie an. L. vertrat die Partei 1902—13 in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, wurde 1904—13 als Delegierter zu allen Parteitagen entsandt außer 1908, als er auf der Festung Glatz einsaß —, errang in diesem Jahr ein Mandat für das Preußische Abgeordnetenhaus und 1912 ein zusätzliches für den Reichstag. In der an Talenten gewiß nicht armen Vorkriegssozialdemokratie war L. doch eine Ausnahmeerscheinung: privat liebenswürdig und hilfsbereit, im politischen Denken weder eng noch marxistisch - orthodox, indes heftig, rücksichtslos und unerbittlich, wo es im Kampf gegen die Säulen der Klassengesellschaft in Militär, Polizei, Justiz und Verwaltung um die Interessen der Arbeiter und ihrer Bewegung ging. In Reden und Schriften, vor Gericht und im Parlament traktierte er die Vertreter des »Vaterlandes der Junker und Pfaffen, der kapitalistischen Ausbeutung« in oft unerhörter Form und versuchte das Seine, um in einem obrigkeitsstaatlich durchseuchten Gemeinwesen den Unterdrückten und Gedemütigten den lähmenden Respekt vor den »Spitzen der Gesellschaft« zu nehmen. Diese haßten ihn dafür. In den eigenen Reihen stieß er auf die Ablehnung vornehmlich jener, die dabei waren, in der Gesellschaft, wie sie war, sich einzurichten. Es liebten ihn die Jugendlichen, die um Selbständigkeit in der Partei rangen und in ihm einen Fürsprecher hatten. Sie waren eine der Stützen in seinem lebenslangen politischen Streit gegen die Welt des preußischen Militarismus und die Internationale des Rüstungskapitals, der ihm Anklage, Haft, aber auch Anerkennung über die Grenzen hinaus eintrug. Für viele in der II. Internationale verkörperte L. die klassenkämpferische und internationalistische Tradition der deutschen Sozialdemokratie in zweiter Generation.
Als 1914 der I. Weltkrieg ausbrach, wahrte L Fraktionsdisziplin und stimmte im Reichstag die Kriegskredite. Es war sein letztes Zugeständnis wenn nicht an die Einheit, so doch an die äußerliche Geschlossenheit der Sozialdemokratie. In dem Maße, in dem eine Mehrheit in Parteiführung und Fraktion aus dem spontanen Burgfrieden bei Kriegsausbruch eine alltägliche Praxis der inneren und äußeren Zusammenarbeit mit der Staatsmacht entwickelte, ging L. auf Kollisionskurs. Er nahm Fühlung mit Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, und Grimm auf und bemühte sich in weiteren Kontakten um Sammlung der Opposition. Als er am 2. Dezember 1914 als einziger Abgeordneter die zweitet Kriegskredite ablehnte, war er mit einem Schlag der bestgehaßte Mann im Reich, aber auch das Symbol des beginnenden Widerstands gegen den Krieg. Im Februar 1915 als Armierungssoldat eingezogen, in der Fraktion unter starkem Druck, im Reichstag Gegenstand unflätiger Angriffe, ließ er sich nicht entmutigen. Er habe da »unverwüstlichen Optimismus seines Alten geerbt«, sagte Mehring, den L.s rastloser, ungeduldiger und zunehmend unduldsamer Tatendrang bisweilen genierte. Tatsächlich riß L. nicht nur viele mit, er erschreckte auch viele in der breiter werdenden Opposition, wo ihm als Eitelkeit ausgelegt wurde, was Hingabe war und Äußerung eines tief verwurzelten Voluntarismus. So blieb L. trotz Zugehörigkeit zur Gruppe Internationale doch auch ein Einzelkämpfer. Am 1. Mai 1916 als Demonstrant verhaftet, kam er erst im Oktober 1918 wieder frei. Er stürzte sich unverzüglich in den Kampf um Revolution und sozialistische Republik, wurde Mitglied des Vollzugsausschusses der Revolutionären Obleute, der Zentrale des Spartakusbundes, Redakteur der Roten Fahne und Mitgründer der KPD. Die alten Mächte, die ihn seines Ansehens in der Arbeiterklasse wegen fürchteten, ließen L. am 15. Januar 1919 ermorden.

Wilhelm Liebknecht

Liebknecht, Wilhelm, 1826/Gießen - 1900/Berlin, stammte aus einer Familie von Gelehrten und Beamten, studierte Philologie, Theologie und Philosophie. 1848 nahm er am Aufstand in Baden teil, wurde deswegen neun Monate in Haft gehalten, schloß sich 1849 der Reichsverfassungskampagne an und entkam nach deren Scheitern in die Schweiz. Von dort ausgewiesen, fand er 1850 in London Zuflucht. Zu Anfang seines zwölfJährigen Exils in England wurde er Mitglied des Bundes der Kommunisten und blieb nach dessen Auflösung in ständiger Verbindung mit Marx und Engels. Aufgrund einer Amnestie 1862 nach Deutschland zurückgekehrt, trat L. in Berlin dem ADAV bei, wurde 1865 aus Preußen ausgewiesen und übersiedelte nach Leipzig. Dort bildeten L.s Tätigkeit in Arbeitervereinen, seine Mitwirkung bei der Bildung der Sächsischen Volkspartei (1866) und seine politische Zusammenarbeit mit Bebel eine Voraussetzung für die Gründung (1869) der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP).
An der Vereinigung von ADAV und SDAP (1875) zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) und an der Formulierung von deren Programm, das von Marx heftig kritisiert wurde, hatte L. entscheidenen Anteil. Er wurde Chefredakteur des Zentralorgans der SDAP, Der Volksstaat, 1876 - 78 des Vorwärts, des Zentralorgans der SAPD, und, ab 1891, Chefredakteur des gleichnamigen Zentralorgans der SPD. Nach anfänglichen Bedenken gegen eine parlamentarische Tätigkeit in einem von Bismarck beherrschten undemokratischen Staat kandidierte L. 1867 mit Erfolg für den Norddeutschen Reichstag. Dort waren er und Bebel die einzigen, die im Juli 1870 die Zustimmung zur Kriegsanleihe verweigerten durch Stimmenthaltung.
1874 wurde L. in den Reichstag gewählt, dem er mit einer kurzen Unterbrechung bis zu seinem Tod angehörte. 1879—85 und 1889—92 war er auch Mitglied des Sächsischen Landtags. Im Leipziger Hochverratsprozeß (1872), in dem L. zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt wurde, erklärte er sein »zwiefaches Ideal«: »das einige und freie Deutschland und die Emanzipation des arbeitenden Volkes«. Obwohl sich L. als Künder der Lehren von Marx verstand, wich er in politischen Entscheidungen von dessen Stellungnahmen ab und übernahm auch nur teilweise dessen Theorien. L.s Einfluß auf die Sozialdemokratie und deren Programme war prägend in der Frühzeit der Partei, nahm jedoch während des Sozialistengesetzes ab; das Erfurter Programm trägt nicht mehr seine Handschrift.
Bis zu seinem Tod war L. als Journalist, Schriftsteller, Parlamentarier, Redner und politischer Lehrer tätig. Sein Wirken und seine temperamentvolle, idealistische Persönlichkeit verschafften ihm hohes Ansehen nicht nur in der deutschen, sondern auch in der internationalen Arbeiterbewegung, der er als Gründungsmitglied der II. Internationale und durch persönliche Kontakte eng verbunden war.

Links / Sozialismus

Linkssozialistische Richtungsgruppen in Italien. Die Vielfalt des wechselnden Spektrums einer »unabhängigen« oder Neuen Linken in Italien, die in den letzten 20 Jahren wiederholt zu auch parlamentarisch vertretenen Parteigründungen (u.a. PSIUP, PdUP, Democrazia Proletaria, Radikale Partel) geführt hat, ist paradoxerweise ein Ergebnis der politischen und kulturellen Hegemonie der italienischen Kommunistischen Partei (PCI) innerhalb der italienischen Arbeiterbewegung. Seitdem sich nämlich die Italienische Sozialistische Partei (PSI) über ihre Politik der »Mitte - Links - Koalitionen« mit den italienischen Christdemokraten eher auf die »Mitte« des Parteienspektrums orientierte, blieb auf der Linken ein politisches Terrain zwischen radikaldemokratischer Politik und basisnaher Klassenaktion gewissermaßen unbesetzt, das von den Kommunisten zwar dominiert, nicht aber zur Gänze glaubwürdig verkörpert werden konnte. Die Grenzen dieses Terrains blieben jedoch fließend. Zum einen wurden sie durch die (oft verspäteten) Lernprozesse des PCI immer wieder einmal enger gezogen; dann wiederum wurden sie durch neue gesellschaftliche Mobilisierungen vor allem im Gefolge der 68er Bewegung erweitert. Die linkssozialistischen Strömungen der 50er und 60er Jahre gingen in den 70er Jahren mehr oder weniger im Einflußbereich des PCI auf, der damit auf seinem »langen Marsch« zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht nur hin zur liberal - bürgerlichen »Mitte«, sondern auch gegenüber den »links« von ihm verorteten Bedürfnissen und Bewegungen Politikfåhigkeit erweitern konnte. Dies gilt auch für ein Großteil der Gruppen, die nach der 68er Bewegung entstanden. Nach 1977 kam es jedoch auch im Zeichen einer kritiklos staatsbejahenden Haltung der offiziellen Linken zu einem tiefgreifenden Bruch zwischen radikalen gesellschaftlichen Bedürfnissen einer antiinstitutionellen Revolte (die zum Teil zum Rekrutierungsreservoir eines »roten« Terrorismus wurde) und der institutionell - politischen Sphäre überhaupt.
(1) In den 50er und 60er Jahren standen die Initiativen und Gruppen einer linkssozialistischen Strömung in doppelter Abgrenzung gegen den unzureichenden Prozeß kulturell - politischer Entstalinisierung des PCI einerseits und den kritiklos auf den Zug der neokapitalistischen Modernisierung aufspringenden Kurs des PSI (»Mitte - Links - Regierungen«) andererseits.
(a) Um die von R. Panzieri initiierte Zeitschrift Quaderni Rossi sammelten Sich in Turin und anderen industriellen Zentren Norditaliens gewerkschaftliche und betriebliche Aktivisten, aber auch unabhängige Intellektuelle aus beiden Linksparteien; sie bemerkten, daß die offizielle Linke den Kontakt zu den veränderten Bedingungen der betrieblichen Arbeitswelt verloren hatte. Über die sogenannte »Arbeiteruntersuchung« versuchten sie, die technologische Neuzusammensetzung der Arbeitskraft auch als Ansatz einer Neuzusammensetzung der Arbeiterpolitik zu nutzen. Der »subjektive Faktor« des »Arbeiterstandpunkts« wurde später auch zum theoretischen und politischen Schlüssel des sogenannten »Operaismus« (M. Tronti, T. Negri), einer bewußt »einseitigen« Lektüre der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft als Produkt der Arbeiterkämpfe.
(b) Als es im Zuge der »Mitte - Links« - Koalitionen auch zur zeitweiligen Wiedervereinigung des PSI mit der strikt antikommunistischen Italienischen Sozialistischen Demokratischen Partei (PSDI) kam, spaltete Sich der linkssozialistische Flügel des PSI unter L. Basso 1963 als PSIUP ab und erhielt bei den Parlamentswahlen 1968 auf Anhieb 4, 5 % der Stimmen. Während die sozialistisch - sozialdemokratische Wiedervereinigung unter dem Druck der Arbeiterkämpfe des »heißen Herbstes« 1969 wieder zerbrach, spielte der kleine PSIUP vor allem unter den gewerkschaftlichen und Betriebsaktivisten dieses Klassenkampfzyklus eine wichtige Rolle. Der PSIUP, der — unter Berufung auf die Tradition Rosa Luxemburgs — für einen radikaldemokratischen Massenkampf als Voraussetzung des Weges zum Sozialismus eintrat, ging in den 70er Jahren weitgehend im PCI auf.
 (2) Anders als in Westdeutschland und in Frankreich kam es in Italien zu einer Verbindung von antiautoritärem Kampf der Studenten (der 1968 an der Mailänder katholischen Universität begann) und der Welle der Arbeiterkämpfe des »heißen Herbstes« 1969, die anfänglich der Kontrolle von Parteien und Gewerkschaften völlig entglitten. Beide wirkten später aber — vor allem über die Konstituierung der »Rätegewerkschaft« (B. Trentin) und 1972 der Einheitsföderation der kommunistischen, sozialistischen und katholischen Gewerkschaftsverbände — auf die offiziellen Institutionen der Arbeiterbewegung, nicht zuletzt auch den PCI innovativ zurück. In der Zwischenphase, also etwa von 1969 bis 1974, entstand aus der Bewegung der »kulturrevolutionären« Studenten und der neuen, bisher vom gewerkschaftlichen Kampf vernachlässigten Arbeitergenerationen (die sogenannten »Massenarbeiter« der taylorisierten Großindustrie Norditaliens, meist aus Süditalien eingewandert, die sich in den Kämpfen des »heißen Herbstes« zum ersten Male als »neues politisches Subjekt« gegen die traditionelle Arbeiterbewegung behaupten) eine neue regelrechte »Massenavantgarde« Zehntausender Militanter. Mit ihren Kampfformen (insbesondere der sogenannten »Vollversammlungsdemokratie« in Universitäten und Fabriken), aber auch in ihren Inhalten (»Wir wollen alles propagierte sie gegenüber dem »Reformismus« des PCI die »Reife des Kommunismus« und bildete die Basis für verschiedene Parteien der Neuen Linken, die jedoch in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zum großen Teil eingingen oder an Bedeutung verloren. Die wichtigsten dieser Gruppen waren:
(a) Die manifesto - Gruppierung, die aus der linken, antistalinistischen Opposition des PCI hervorgegangen war und 1969 wegen »Fraktionismus« ausgeschlossen wurde. Sie versuchte, die auf »kulturelle Hegemonie« (Gramsci) ausgerichtete Tradition des italienischen Kommunismus mit den »kulturrevolutionären« Impulsen der 68er Bewegung zu verbinden, also zwischen der traditionellen sozialistisch - kommunistischen Bewegung und den neuen Subjekten eine »Dialektik von Kontinuität und Bruch« (R. Rossanda) in Gang zu setzen, die zur Entstehung eines »neuen revolutionären Blocks« als des Trägers einer »Revolution im Westen« führen sollte. Da die manifesto - Gruppe (deren »Thesen« in Westdeutschland einen großen Einfluß auf das Sozialistische Büro hatten) den Bruch zwischen alter und neuer Linker ablehnte, gelang es ihr nicht, die anderen, radikaleren Gruppen zu einer einheitlichen Partei der Neuen Linken zu vereinigen. Ende der 70er Jahre blieben nur die wichtige unabhängige Tageszeitung il manifesto (geleitet von Rossanda und L. Pintor) sowie die kleine Linkspartei L. Magris (die PdUP) übrig, die sich eng an den PCI anlehnte und Ende 1984 mit ihm fusionierte.
(b) Die Gruppen Lotta Continua und Potere Operaio knüpften stärker an die »operaistische« Lesart der Arbeiterkämpfe an und versuchten, die im »heißen Herbst« entstandenen Strukturen der Fabrikkämpfe (Vollversammlungen, Basisdelegierte) auch noch in einer Phase aufrechtzuerhalten, als die Gewerkschaft diese Formen längst in ihre Erneuerung (als »Rätegewerkschaft«) einbezogen hatte. Die strategische Perspektive dieser Gruppen war die »Arbeiterautonomie« — verstanden als Autonomie der Arbeiterkämpfe nicht nur gegenüber den »Sachzwängen« der Kapitalverwertung, sondern auch gegenüber den traditionellen Arbeiterorganisationen, vor allem dem PCI. Angesichts der wiedererstarkten Vitalität und Lernfähigkeit von Gewerkschaften und PCI mußte aber die Strategie dieser Gruppen, die Arbeiterrevolte (sogenannte »Arbeiterinsubordination«) über den Lohnkampf bis zur Schwelle des bewaffneten Aufstandes voranzutreiben, scheitern: Beide Gruppen lösten Sich im Verlaufe der 70er Jahre mehr oder weniger in den Bewegungen auf Stadtteilebene auf und verschwanden aus der Fabrik. Den Todesstoß für Lotta Continua bildete 1974 die Kritik der neuen italienischen Frauenbewegung an der männerdominierten Politikform des »kraftvollen proletarischen Klassenkampfs« auch und gerade in der Neuen Linken.
(c) Reste der linkssozialistischen Strömungen und verschiedener maoistischer (»marxistisch - leninistischer«) Gruppen, u.a. von Avantguardia Operaia, bildeten Mitte der 70er Jahre eine kleine linksradikale Partei Democrazia Proletaria, die — vor allem als linke Protestpartei gegen den staatstragenden »Reformismus« der Kommunisten bis heute überleben konnte und auch im italienischen Parlament vertreten ist. Da es in Italien jedoch keinen der bundesdeutschen Fünfprozentsperrklausel vergleichbaren Zwang für die Neue Linke gibt, sich über unterschiedliche Linien und Richtungsunterschiede hinweg zu verständigen, kam es nicht zur Bildung einer den deutschen Grünen Alternativ - und Ökologiebewegung/Die Grünen) vergleichbaren neuen politischen Formation.
(3) An ihren explizit politischen Ansprüchen, eine »Revolution im Westen« zustande zu bringen, ist die Neue Linke, wie anderswo, auch in Italien gescheitert. Kulturell hingegen markieren ihre Entwicklung und ihr Ende gleichzeitig einen tiefgreifenden Prozeß der Entstehung neuer kollektiver Subjekte, eines neuen »Systems von Bedürfnissen«, für das vor allem der Anspruch der neuen Frauenbewegung, »Politik in erster Person« zu machen, in den Jahren 1974—77 charakteristisch wurde. Dieser Anspruch konnte durch die krampfhaften Versuche der kleinen Linksparteien, den PCI auf seinem eigenen Terrain »links zu überholen«, politisch nicht mehr vertreten werden. Als jedoch die Neue Linke gescheitert war und der PCI Sich mit seiner Strategie des »historischen Kompromisses« auf eine Übereinkunft mit den herrschenden Christdemokraten einließ, kam es zu einem völligen Kommunikationsabbruch zwischen der neuen Studenten - und Jugendrevolte (1977) und der offiziellen Linken.
Diese Spaltung zwischen »zwei Gesellschaften« (A. Asor - Rosa) — der der offiziellen »etablierten« Institutionen einschließlich der Arbeiterbewegung und der der aus dem Arbeitsmarkt sowie der offiziellen —+ Politischen Kultur ausgegrenzten Revolte der »Emarginierten« — wurde Ende der 70er Jahre zu einem Bild für den wachsenden Abstand zwischen der Sphäre sozialer und kultureller Bewegungen einerseits und der der institutionellen Politik insgesamt andererseits. Aus dieser — durch das in Italien massenhafte
Phänomen eines »roten Terrorismus« noch tragisch verschärften — Konstellation vermochte einige Jahre lang eine kleine Bürgerrechts - und »Bewegungspartei« Kapital zu schlagen. Die Strategie der Radikalen Partei unter ihrem charismatischen Führer M. Panella bestand gerade darin, die getrennten Sphären von sozialem Protest und »abgehobener« Politik miteinander »kurzzuschließen« — durch Referenden zur Abschaffung bestimmter Gesetze, durch demonstrativen Hungerstreik von Abgeordneten im Parlament, durch Obstruktion parlamentarischer Regeln usw. —, um spektakuläre Effekte über Fernsehen und Presse in die Durchsetzung einzelner Bürgerrechte (wie Freigabe der Abtreibung, Kriegsdienstverweigerung, ökologische Forderungen) umzumünzen. Diese »Medienstrategie« hat allerdings die Radikale Partei (in der manche westdeutsche Beobachter zu Unrecht ein Pendant zu den Grünen sehen wollten) zunehmend degenerieren lassen: zum »Medium« der Selbstdarstellung des Parteichefs. In den 80er Jahren kam es auch in Italien zu parteiunabhängigem ökologischem und pazifistischem Protest, bei dem neben den Resten der vormals Neuen Linken zunehmend auch christliche Basisgruppen aktiv wurden. Eine Partei ist aus diesen Initiativen jedoch nicht entstanden, nur einige lokale »grüne« Listen, zumal sich der PCI bisher erfolgreich um ein offenes und flexibles Verhältnis zu diesen Initiativen bemüht: Innerhalb der linkspluralistischen Kulturassoziation A. R. C.I. hat sich allerdings eine »grüne« Bewegung konstituiert, die mehrere tausend Mitglieder umfassende und auch in der Friedensbewegung sehr aktive Lega per lambiente.

Rosa Luxemburg

Luxemburg, Rosa, 1871/Zam04é (Russisch - Polen)—1919/Berlin. Tochter eines emanzipierten jüdischen Kaufmanns, trat L. schon früh einem polnischen illegalen revolutionären Zirkel bei. Nach dem Abschluß des Studiums lebte sie seit 1898 in Deutschland. Mit ganzer Kraft stürzte sie sich alsbald in die Arbeit der deutschen Sozialdemokratie. Nach dem Ausbruch der ersten russischen Revolution 1905 ging sie illegal nach Warschau, wo sie 1906 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Jogiches verhaftet wurde. Nach Deutschland zurückgekehrt, wirkte sie als Dozentin an der zentralen Parteischule der SPD. Aus dieser Arbeit erwuchs die erst nach ihrem Tode veröffentlichte Einführung in die Nationalökonomie (1925) sowie ihr theoretisches Hauptwerk Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (1913).
Für die Humanistin und Kriegsgegnerin, die schon 1900 auf dem Pariser Kongreß der II. Internationale vorhergesagt hatte, der Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung werde »durch eine durch die Weltpolitik herbeigeführte Krisis« erfolgen, und die auf den Kongressen der Internationale 1907 in Stuttgart und 1912 in Basel den Kampf gegen Krieg und Militarismus zu steigern versucht hatte, wirkten der Ausbruch des Weltkrieges und die Kriegspolitik der SPD als furchtbare persönliche Schicksalsschläge. Zusammen mit K. Liebknecht suchte sie mühselig das kleine Häuflein kompromißloser Kriegsgegner in der SPD zu sammeln und zu organisieren — erst in der Gruppe Internationale, dann im Spartakusbund. Doch schon am 18. Februar 1915 wurde sie zur Abbüßung einer einjährigen Gefängnisstrafe festgesetzt. 1916 einige Monate auf freiem Fuß, öffneten sich erst am 9. November 1918 die Gefängnistore auch für sie
endgültig. Sie konzentrierte sich nun ganz auf den Kampf für die Weiterführung der Novemberrevolution, der auch die Gründung der KPD (Spartakusbund) dienen sollte. Nachdem der Januaraufstand, den sie abgelehnt hatte, fehlgeschlagen war, wurde sie am 15. Januar 1919 zusammen mit K. Liebknecht von Regierungstruppen brutal ermordet.
In die Geschichte des Sozialismus ist L. eingegangen als die Marxistin, die zutiefst von der Spontaneität der Massen als dem schöpferischen Element des Klassenkampfes überzeugt war. Zum kläglichen Fiasko verurteilt sei jede Strategie des Klassenkampfes, »die bloß auf die hübsch ausgeführten Märsche des kasernierten kleinen Teils des Proletariats zugeschnitten wäre«. Die Verselbständigung der beiden Säulen der Arbeiterbewegung, der Partei und der Gewerkschaften, müsse überwunden werden. Der Massenstreik könne nicht von oben dekretiert werden, die Aufgabe der Sozialdemokratie liege daher auch nicht so sehr in der »technischen Vorbereitung und Leitung des Massenstreiks« als vielmehr »in der politischen Führung der ganzen Bewegung«.
Ein literarischer Höhepunkt von L.s Kampf war die im Berliner Weibergefängnis verfaßte Abhandlung, die unter dem Pseudonym Junius 1916 freilich nur in Zürich erscheinen konnte. Indem L. die Legende von der Einkreisung Deutschlands und von der russischen Bedrohung, von der Vaterlandsverteidigung und vom nationalen Befreiungskrieg zerfetzt, zeigt sie die Schuld der preußischen und deutschen Machthaber an dem Ausbruch der Kriege von 1866, 1870 und 1914. Sie verschweigt aber auch nicht die Mitverantwortung Frankreichs und Englands, »denn was ihr alter imperialistischer sie ‚verteidigen‘ ist … ihr alter imperialistische Besitzstand«. Erst der Sozialismus wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker sichern.
Lange vor F. Fischers Griff nach der Weltmacht wird hier das Verhältnis Deutschlands zu den anderen Weltmächten treffend aufgedeckt. Der Weltkrieg ist mit der Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie für L. eine Katastrophe, eine Weltwende für die Menschheit. Hatte sie bis 1914 in der Tradition von Marx an das naturnotwendige Kommen des Sozialismus geglaubt, so sah sie nun deutlich das Dilemma: Sozialismus oder Barbarei! Wenn das Proletariat nicht sein revolutionäres Kampfschwert in die Waagschale wirft, wird der Sieg des Imperialismus den »Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom«, mit sich bringen. Die militärische Unentschiedenheit führt zur Beendigung des Krieges durch allseitige Erschöpfung, der der wirtschaftliche Ruin aller Länder folgt. Der Weltkrieg ist aber vor allem ein »Aderlaß, an dem die europäische Arbeiterbewegung zu verbluten droht«. Mit jedem geschulten, klassenbewußten Proletarier »sinkt ein Kämpfer der Zukunft, ein Soldat der Revolution, ein Retter der Menschheit vom Joch des Kapitalismus ins Grab«. »Noch ein solcher Weltkrieg, und die Aussichten des Sozialismus sind unter den von der imperialistischen Barbarei aufgetürmten Trümmern begraben.« So antizipierte L. schon einen zweiten Weltkrieg als Resultat neuer Rüstungen, der Herrschaft des Militarismus und der Reaktion gerade auch im Falle der Niederlage Deutschlands.
In ihrer Auseinandersetzung mit Lenin und den Bolschewiki hat L. die humanistisch - demokratisch - libertären Momente im Sozialismus betont. Sie antizipierte schon das Unmenschliche der zentralistisch - terroristischen Dauerdiktatur von Parteimaschine und Staatsapparat im totalitären Stalinismus. Aber auch gegen Lenin und Trotzki wendet L. ein, daß diese genau wie Kautsky die Diktatur der Demokratie entgegenstellen. Ein solches Entweder - Oder ist aber das Gegenteil »wirklicher sozialistischer Politik«. Das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gegen die Mißachtung demokratischer Institutionen, die wie alle menschlichen Institutionen ihre Schranken und Mängel haben, gefunden haben — die Beseitigung der Demokratie! —, ist noch schlimmer als das Übel selber: »Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breiten Volksmassen.« Für L. bleibt die - + Diktatur des Proletariats immer auch sozialistische Demokratie. In ihrem Kampf gegen die revisionistische Sozialdemokratie sah sie sich gedrängt, die positive Rolle der revolutionären Führung und der konsequenten Gewalt hervorzuheben. L. vertrat als Weltbürgerin, als Bürgerin »derer, die da kommen werden«, die Zukunft einer emanzipierten Menschheit. Diese Perspektive verlangt in letzter Konsequenz die Überwindung der entmenschenden Gewaltsamkeit durch die revolutionäre gewaltlose Aktion. Es war aber ihr Schicksal, in einer Zeit und in einem Lande zu leben, wo die Gewalt zwar schon — auf längere Sicht gesehen — antiquiert war, die Menschen und die Verhältnisse aber doch noch nicht reif zu sein schienen für den Übergang zu den so anspruchsvollen Methoden der gewaltarmen Aktion.
Auch blieb L. als Marxistin in der Tradition des Alles oder Nichts, des einmaligen und alles überschattenden Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie, der nur mit der totalen Niederlage dieser und dem absoluten Siege jenes enden konnte. Dieser welthistorische Endkampf, dieses letzte Gefecht zwischen Gut und Böse kannte keine wirklichen Kompromisse und mußte sich bis aufs Äußerste, d.h. aber auch den gewaltsamen Austrag, zuspitzen. Hatten Marx und Engels im Alter selber diese Geschichtskonstruktion hier und da abgemildert, so schien nun die unvorstellbar blutige Gewaltsamkeit des neuen imperialistischen Zeitalters und die extreme Grausamkeit des Weltkriegesjede Revision der Grundthese ein für allemal zu widerlegen.

Georg Lukács

Lukács, György (Georg), 1885/Budapest bis 1971/Budapest, aus großbürgerlichen Verhältnissen, promoviert in Jura/Nationalökonomie Philosophie, Zentralfigur der jungen, radikalen bürgerlichen Intelligenz Ungarns vor 1914, wendet sich nach schöngeistigen Essays und preisgekrönter Dramengeschichte intensiv dem Studium des deutschen Idealismus, G. W. F. Hegels, vor allem Marx zu. Lange Bildungsreisen, Begegnungen mit Hauptvertretern der Geisteswissenschaften (G. Simmel, K. Mannheim, A. Hauser, E. Lask, F. Gundolf, H. Rikkert, Bloch, M. Weber), Auseinandersetzung mit dem Anarcho - Syndikalismus Anarchismus) und Rosa Luxemburg sowie der gescheiterte Versuch einer kunstbegründenden Ästhetik sind Stationen auf seinem »Weg zu Marx«, der politisch zur lebenslangen Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Ungarns (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) führt (ab 1918). In der Ungarischen Räterepublik Volkskommissar für Unterrichtswesen, nach deren Sturz illegale Tätigkeit und Emigration nach Wien, wo die seinen theoretischen Ruf begründenden Abhandlungen zur Theorie der Revolution (Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923) entstehen, die in der Kommunistischen Internationale (KI) von Lenin, und G.J. Sinowjew als Linksradikalismus kritisiert werden. L. versucht eine auf G. W. F. Hegel gestützte theoretische Konstruktion des Proletariats als revolutionärem Subjekt der Geschichte. In den Blum - Thesen (1928) entwickelt L. analytisch, aber empirisch belegt für Ungarn, das Konzept einer »demokratischen Diktatur« von Bauern und Arbeitern (bis heute für Entwicklungs - und Schwellenländer beachtlich), das in der KI als Rechtsabweichung disqualifiziert wird und L. zur 1. Selbstkritik und Rückzug von der Parteiarbeit bringt.
1930 erste Emigration nach Moskau, Arbeit (unter D. Rjasanow) an der Marx/Engels Gesamtausgabe (MEGA), 1931—33 literaturorganisatorische (Schutzverband deutscher Schriftstel1er, Bund proletarisch - revolutionärer Schriftstel1er) und literaturtheoretische Aktivitäten (Internationale Literatur, Linkskurve) auf der Linie der KI gegen die Sozialdemokratie. 1933—44 zweite Emigration in Moskau, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Entwicklung des Konzepts des »Großen Realismus«, Der junge Hegel (wird revolutionär - demokratisch eingeordnet), Die Zerstörung der Vernunft und zugehörige Vorarbeiten, die erkennen lassen, wie die Sozialfaschismusthese von der Volksfrontthese abgelöst wird und wie taktischer Antifaschismus sich zu einem (heute wieder wichtigen) grundsätzlichen Antiirrationalismus in der Tradition europäischer Aufklärung wandelt. In der »Expressionismusdebatte« (1938 gegen Bloch, B. Brecht, A. Seghers) wird der nur kulturrevolutionäre Expressionismus als Verfallserscheinung des Kapitalismus gedeutet, dem der Realismus als Ausdruck des historisch gewachsenen Volkslebens positiv gegenübergestellt wird: Ab 1945 in Budapest (Professor, Parlamentsmitglied) ist L. ständiger Parteikritik ausgesetzt, übt zum 2. Mal Selbstkritik, arbeitet an seiner marxistischen Ästhetik (1963, DDR 1981), tritt 1956 mit scharfer Kritik an Stalin hervor, wird Mitglied des ZK der ungarischen Kommunisten, Volksbildungsminister der Nagy - Regierung; nach dem Scheitern des ungarischen Aufstands nach Rumänien deportiert, als Bannerträger bürgerlich - demokratisch - antirevolutionärer Kräfte eingestuft, in den »sozialistischen Ländern« lange Zeit nicht veröffentlicht. Ab 1961 beginnt in Italien und der Bundesrepublik (hier über die Studentenbewegung vermittelt) die Rezeption der älteren politischen Theorie, zögernd auch die Aufnahme des ab 1962 konzipierten Entwurfs sozialistischer Demokratie in einer langen mit dem Kapitalismus koexistentiellen Übergangsphase zum Kommunismus. Bis zu seinem Tode arbeitet L. in der Ontologie des gesellschaftlichen Seins (1984/85) an einer generellen Neubestimmung sozialistischer Gesellschaft auf der Grundlage eines schöpferischen Marxismus.

Mao Zedong

Mao Zedong, 1893/Shaoshan - 1976/Beijing, Bauernsohn, während Lehrerstudium in Changsha Anschluß an die revolutionäre Jugendbewegung, danach in Beijing Kontakt zu marxistischen Kreisen (Chen Duxiu, Yang Changzhi, Chang Guotao), 1921 Mitgründer der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Revolutionäre Tätigkeit in Shanghai und der Provinz Hunan, vor allem in der Bauernbewegung, die er nach 1924 (Einheitsfront mit Guomindang) stärker beeinflußt. Nach dem Bruch zwischen KPCh und Guomindang (1927) ist M. in Hunan aktiv, nimmt am Bürgerkrieg teil, dann am »Langen Marsch«, während diesem wird er im Januar 1935 zum Vorsitzenden der KPCh gewählt. Offene Konflikte mit Vertretern der Kommunistischen Internationale. Nach dem »Langen Marsch« ist M. in Yanan in der Provinz Shaanxi unumstrittener Führer der KPCh. 1949 Vorsitzender der Volksregierung, 1949/50 und 1957 Reisen nach Moskau. 1958 als Regierungs - und Staatschef abgesetzt, bleibt aber Parteivorsitzender. Leitet Mobilisierung zum »Großen Sprung nach vorn« 1958, inspiriert Bruch mit UdSSR
1959—61, wird nach Sieg seiner Anhänger über Liu Shaoqi (1966) wieder unumstritten Partei - Chef, inspiriert auch die »Große proletarische Kulturrevolution«. Als Führer der chinesischen Revolution und ihr Theoretiker bedeutend, entwickelt M. während der Bürgerkriege gegen Guomindang Theorie des Partisanenkampfs, Einheit von politischer Veränderung und militärischem Kampf. »Neue Demokratie« als Übergangsform zum Sozialismus auf chinesische Weise enthält temporäres Einheitsfrontkonzept mit »nationaler Bourgeoisie«. Schon 1946 gelten »Maozedongideen« als modellhaft für die kolonialen Gebiete: Bauernklasse als revolutionäres Subjekt im Bund mit Proletariat und revolutionärer Intelligenz; Revolution ist ein ununterbrochener Prozeß; Schwerpunkt ist die Umwälzung auf dem Land (Agrarrevolution); sozialistischer Aufbau darf nicht neue Herrscherklasse erzeugen. In der Kulturrevolution wendet sich M. auch gegen die KPCh und ihren Apparat (»kapitalistischer Weg« der neuen Machtelite wird bekämpft). Versuch, die Jugend und revolutionäre Teile der Armee zu mobilisieren, führt zu chaotischen Zuständen und zur Diktatur der Parteilinken (1969—71 Lin Biao, 1976 extreme Linke, »Viererbande«). — M.s theoretisches Werk enthält zentral die Theorie des Widerspruchs: Reale Dialektik materieller Widersprüche ist Bewegungselement der Geschichte, Widersprüche können verschiedene Stufen erreichen, antagonistische Widersprüche lösen sich nur durch Kampf, nichtantagonistische können auch durch zeitweiligen Kompromiß beigelegt werden, Klassenkampf dauert auch im Sozialismus fort. Nach 1957 Unterscheidung zwischen Widersprüchen »im Volk«, die nichtantagonistisch sind, und Widersprüchen »zwischen Volk und Klassenfeind«; Sieg des »Volkes« möglich, wenn Hauptwiderspruch erkannt wird und alle anderen durch Einheitsfront und Koalition überbrückt werden, bis Lösung erforderlich ist. UdSSR nun als neokapitalistisch und imperialistisch analysiert. Außenpolitisch Entwicklung der »Zwischenzonentheorie« (1946), später »Drei - Welten - Theorie«: Erste Welt: imperialistisches Lager, Zweite Welt: nichtimperialistische oder subimperialistische Industriestaaten, Dritte Welt: unterdrückte Entwicklungsländer.

Karl Marx

Marx, Karl Heinrich, 1818/ Trier—1883/London, Sohn eines Anwalts, beide Eltern stammen aus gebildeten rabbinischen Familien. Der Vater muß — nach dem Beginn der Reaktion in Preußen den Glauben wechseln, um seinen Beruf weiter ausüben zu können. Nachdem M. in Bonn und Berlin zunächst — nach dem Willen des Vaters — Rechtswissenschaft studiert hat, wendet er sich in Berlin unter dem Einfluß —»junghegelianischer Freunde (K. F. Köppen, B. Bauer usw.) der Philosophie zu und promoviert — in absentia — an der Universität Jena mit einer Arbeit über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie im allgemeinen (1841). Eine zunächst beabsichtigte akademische Tätigkeit erweist sich angesichts der zunehmenden Reaktion — als aussichtslos, und M. wird politischer Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln, die er im Sinne entschiedener linksliberaler und demokratischer Orientierung leitet. Angesichts der Unterdrückung der freien Presse durch die preußische Zensur geht er Ende 1843 zusammen mit dem Linksliberalen A. Ruge nach Paris, wo er die Deutsch - Französischen Jahrbücher herausgibt und sich offen zum Sozialismus bekennt. Unter dem Einfluß des jungen Engels wendet sich M. dem Studium der Klassiker der politischen Ökonomie zu und beginnt um diese Zeit mit der Entwicklung seiner zunächst noch philosophischen und politischen, bald immer eindeutiger ökonomischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft
und ihren »Überbauten«. Aus Frankreich ausgewiesen, lebt M. vorübergehend in Brüssel, wo er Arbeitern seine erste Skizze der Kritik der Ökonomie (Lohnarbeit und Kapital) vorträgt.
Die Februarrevolution Revolutionen im 18. und 19. Jh.) bringt ihn 1848 zurück nach Paris und bald darauf nach Köln, wo er die Neue Rheinische Zeitung leitet, die auf dem linken Flügel der 1848er Revolution kämpft und für einen Krieg gegen den »Hort der europäischen Reaktion« Rußland eintritt, Um diese Zeit erscheint in London das von M. — auf der Grundlage von Vorarbeiten von Engels — allein verfaßte Kommunistische Manifest, in dem er in hinreißender Sprache seine geschichtstheoretische Fundierung der sozialistischen Gesellschaft entwickelt. Die Geschichte ist für ihn ein fortschrittlicher Prozeß, dessen Motor von Klassenkämpfen gebildet wird, die ihrerseits aus den Gegensätzen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (bzw. Eigentumsverhältnissen) hervorgehen. Die bürgerliche Revolution hat die kapitalistische Produktionsweise und ihre ungemein dynamischen Potenzen von der Fessel feudaler und absolutistischer rechtlicher und politischer Verhältnisse befreit und einen ungeheuren Aufschwung der Produktivkräfte ermöglicht. In absehbarer Zeit aber werden auch diese neuen, bürgerlichen Produktionsverhältnisse mit ihrem Privateigentum an den Produktionsmitteln (das im Gegensatz zu deren gesellschaftlichem Charakter steht) zu Fesseln der weiteren Entwicklung werden. Aus diesem Grunde erscheinen M. die proletarische Revolution und der Sozialismus unvermeidlich (oder unentbehrlich, wenn die Gesellschaft nicht dem »Untergang in Barbarei« ausgesetzt sein soll).
Die Niederlage der 1848er Revolution, der M. und Engels scharfsichtige Analysen widmen, zwingt M. erneut und diesmal definitiv ins Exil. In London beginnt er alsbald mit der Arbeit an den ersten Entwürfen von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) und an der endgültigen Fassung seiner Kritik: Das Kapital (1867 Bd. I). Zahlreiche Vorarbeiten (die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 1857/58 und weitere aus den 1860er Jahren) zeugen von der Intensität, mit der M. das Problem der Funktion und der immanenten Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise erforscht und dargestellt hat.
Die Machtergreifung Louis Bonapartes, der amerikanische Bürgerkrieg, der Krimkrieg, der Deutsch - Französische Krieg und die Entstehung einer selbständigen Arbeiterpartei in Deutschland werden von M. analysiert und kritisiert. Seine Broschüren Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte und Der Bürgerkrieg in Frankreich über die kurzlebige Pariser Kommune sind Klassiker politischer Analyse und Programmatik. Die Kommune - Verfassung erscheint ihm 1871 als die »endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariats«, die den Übergang von der kapitalistischen Klassen - zur klassenlosen sozialistischen Gesellschaft bilden soll. 1875 kritisiert M. in einem Rundschreiben an deutsche Genossen das Programm des Einigungsparteitags von »Lassalleanern und Eisenachern« in Gotha. Er hält ihnen u.a. vor, daß sie an einem Hegelschen Staatsbegriff festhielten und Lassalles ehernes Lohngesetz insgeheim akzeptierten; auch lehnt M. die Formel »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums« ab, weil sie unterschlägt, daß die Erde — die sich in Privatbesitz befindet für die Herstellung von Gebrauchswerten ebenso benötigt wird. Dieser Feh1er dürfte in der Folge nicht nur bei deutschen Sozialdemokraten zur Vernachlässigung des Problems der Naturzerstörung durch blinde Ausbeutung der Erde beigetragen haben. Ein Problem, auf das M. im ersten Band von Das Kapital schon nachdrücklich hinweist und von dem er — wie Engels — überzeugt ist, daß es in einer planmäßig (und demokratisch) betriebenen Wirtschaft von den »assoziierten Produzenten« gelöst werden würde.
M. nimmt 1864 an der Gründung der Internationalen Arbeiter - Assoziation (IAA) entschiedenen Anteil und gehört zu deren führenden Leuten. Bei aller Toleranz gegenüber unterschiedlichen ideologischen Strömungen (englische Gewerkschafter, auch jene in der IAA, waren meist pragmatisch orientiert und kaum Anhänger von M.) bekämpften er und Engels von Anfang an anarchistische Tendenzen sowohl der Proudhonisten wie vor allem der Bakunisten (Anarchismus). Als die Gefahr dominierenden Einflusses der Bakunisten entsteht, läßt M. den Zentralrat der IAA 1872 nach Amerika verlegen, was praktisch deren Ende bedeutet. Im Krieg von 1870/71 zwischen Frankreich und Preußen - Deutschland begrüßen zwar M. und Engels den Sieg des — wie sie meinen — auf dem Weg zum Sozialismus fortgeschritteneren Deutschland, dessen politische und wirtschaftliche Einheit der —»Arbeiterbewegung ein besseres Terrain bietet, lehnen aber zugleich — wie Bebel und W. Liebknecht im Reichstag des Norddeutschen Bundes Annexionen als gefährliche Keime eines künftigen Krieges entschieden ab.

Franz Mehring

Mehring, Franz, 1846/Schlawe—1919/Berlin, bekannter und glänzender Journalist, bis Ende der 1880er Jahre im radikal - demokratischen, später im liberalen bürgerlichen Lager, ab 1891 Sozialdemokrat. Nach Anfingen als Redaktionsmitarbeiter und Parlamentsberichterstatter arbeitete er u.a. als Berliner Korrespondent der Frankfurter Zeitung und 1886—90 als Leitartikler und faktisch Chefredakteur der liberalen Berliner Volks - Zeitung. 1891—1912 war er dann Leitartikler der Neuen Zeit, des wissenschaftlichen Wochenblatts der SPD. Außerdem leitete er darin das Feuilleton. 1902—07 ging er als Chefredakteur zur Leipziger Volkszeitung, für die er bis zum Tod schrieb. Neben der umfänglichen tagespolitisch - journalistischen Arbeit war er der herausragende Historiker der Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung und bereitete die deutsche, besonders die preußische Geschichte für ein lesendes Arbeiterbewegungspublikum auf (Lessing - Legende). Er schrieb u.a. die erste große Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und eine in ihren Wertungen der Marxschen Theorie noch heute lesenswerte Biographie Karl Marx, die als Alterswerk zugleich geprägt ist von dem eigenen lebenslangen Reflexionsprozeß wie von einem glänzenden Stil. Neben zahlreichen weiteren Beiträgen zur Geschichte in beiden genannten Bereichen lehrte er dieses Gebiet 1906—11 an der neugegründeten Berliner Parteischule. Konflikte und zeitweilige Bismarcknähe aus seiner früheren politischen Orientierung hingen ihm in der Sozialdemokratie weiter an und hinderten am uneingeschränkten Vertrauen. Dabei war er sich in dem politisch prägenden Punkt der Notwendigkeit umfassender sozialer Veränderungen treu geblieben. Seine historischen Schriften wie seine tagespolitischen Beiträge nach 1890 sind durchformt von dem Bestreben, das politische Handeln, aufgrund der rationalen Erkenntnis über die gesellschaftlich - historischen Prozesse vom Zufall befreit, auf der Höhe der Erfordernisse des Augenblicks zu halten. Er ist damit näher an Marx als Kautsky ein Prototyp derer, die versuchten, die Einheit von Theorie und Praxis als handlungsanleitendes und auf Handeln angelegtes Denken zu verwirklichen. So gehörte er mit dem bis weit in die Weimarer Zeit reichenden Einfluß seiner historisch - politischen Bücher und durch die Leitartikler - Funktion in der Neuen Zeit zu denen, die das politische Weltbild und die politische Taktik der Vorkriegssozialdemokratie mitbestimmt haben. In den Auseinandersetzungen um die Taktik vor 1914 wie auch in der Flügelbildung im I. Weltkrieg hat er seine Position nicht eigentlich geändert. Gemessen an dem veränderten Kurs des Parteivorstands spätestens seit 1910 rückte er aus dem Zentrum nach links. Er gehörte zur Jahreswende 1918/19 zu den Mitgründern der KPD. Wie die Leitgedanken der Artikel, mit denen er die Russische Revolution begrüßte, zeigen, war die KPD, die er 1918/19 mitgründete, allerdings eine andere als die, die sich in der Weimarer Republik entwickelte. Sein Werk wurde Ende der 20er Jahre in die Fraktionsauseinandersetzungen im kommunistischen Lager gezogen. Aus diesen Auseinandersetzungen stammt die bis in die heutige Rezeption nachwirkende Reduzierung M.s auf seine literaturhistorischen und wenigen ästhetiktheoretischen Beiträge.

Pietro Nenni

Nenni, Pietro, 1891/Faenza—1980/Rom, trat 1921 — nach längerer Mitarbeit bei den Republikanern (seit 1908) und kurzzeitiger Annäherung an den Faschismus (1919) — der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) bei. Seit 1922 war er in wechselnden Funktionen (Sekretär und Präsident des PSI, Direktor des Avanti!) die bestimmende Persönlichkeit des italienischen Sozialismus sowohl in dessen internen Auseinandersetzungen wie in der Beziehung zur Italienischen Kommunistischen Partei (PCI). Nachdem N. 1922/23 die Verschmelzung des PSI mit dem PCI verhindert hatte, war er (seit 1926 in Frankreich im Exil) 1930 an der Wiedervereinigung des maximalistischen und des reformistischen Flügels der Sozialisten maßgeblich beteiligt und schloß 1934 die Vereinbarung der Aktionseinheit mit dem PCI ab. 1936 - 38 nahm er am Spanischen Bürgerkrieg teil. Die Zusammenarbeit mit dem PCI lockerte sich erst 1956 infolge des XX. Parteitages der KPdSU und der sowjetischen Intervention in Ungarn und wurde zunehmend verdrängt von einer Annäherung an die seit 1947 abgespaltene ehemalige Parteirechte als Reaktion auf die von den Christdemokraten propagierte »Öffnung nach links«. 1963 führte N. den PSI in die erste der Mitte - Links - Regierungen der 60er Jahre, in denen er (nachdem er schon 1945 - 47 verschiedene Regierungsämter bekleidet hatte) zunächst stellvertretender Ministerpräsident (1963—68) und dann Außenminister (1968/69) war. 1966 gelang ihm die Wiedervereinigung mit der Italienischen Sozialistischen Demokratischen Partei, die aber 1969 nach dem Scheitern der Mitte - Links - Koalition wieder zerbrach. Nach kurzzeitigem Rückzug wurde N. Anfang der 70er Jahre erneut zum Parteipräsidenten gewählt und betrieb mit der Konzeption der »sozialistischen Alternative« die Wiederannäherung an den PCI.

Georgi Walentinowitsch Plechanow

Plechanow, G. VA, L, 1856/Gouvernement Tambow—1918/ Terijoki (Finnland), führender Vertreter der russischen und internationalen Arbeiterbewegung, bedeutender marxistischer Theoretiker und Publizist, der zahlreiche philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Arbeiten verfaßte. In den 1870er Jahren war P. unter den Petersburger Arbeitern politisch aktiv, bis er sich 1880 der polizeilichen Verfolgung durch Emigration ins westliche Ausland entzog. Ursprünglich war P. Anhänger des revolutionären Bauernsozialismus. Nachdem er sich in Genf mit der sozialistischen Theorie und Praxis beschäftigt hatte, entwickelte er sich zum Marxisten. 1883 gründete er zusammen mit anderen russischen Sozialisten in Genf die marxistische Gruppe Befreiung der Arbeit, die das russische Proletariat als wichtigste Kraft der sozialistischen Bewegung in Rußland betrachtete und den Kampf für den Sozialismus mit dem Kampf für eine demokratische Staatsordnung zu verbinden versuchte. In zahlreichen theoretischen Schriften, die der Verbreitung der Marxschen Theorie in Rußland dienten, betonte P. die ökonomische Notwendigkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums. Zugleich kritisierte er den von Bernstein vertretenen Revisionismus sowie politisch inkonsequente Auffassungen innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung Rußlands. Als erster marxistischer Theoretiker untersuchte P. die Bedingungen der bevorstehenden Revolution in Rußland, forderte die Bildung einer sozialistischen Arbeiterpartei und verfaßte entsprechende Programme. 1889 beteiligte sich P. am Gründungskongreß der II. Internationale in Paris; später nahm er aktiv an ihrer Leitung teil. In der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) geriet P. in Widerspruch zu Lenin und spielte eine wichtige Rolle in der menschewistischen Sozialdemokratie Menschewismus). Er trat für den Fortbestand der SDAPR in den Jahren der Reaktion und den Zusammenschluß aller sozialdemokratischen Gruppen ein. Während des I. Weltkriegs verteidigte P. die Entente, da er im Falle eines deutschen Sieges den Untergang der europäischen Demokratie befürchtete. Nach seiner Rückkehr nach Rußland 1917 leitete P. die kleine menschewistische Gruppe Einheit und trat publizistisch für eine Fortsetzung des Krieges ein. Er kritisierte die bolschewistische, auf unmittelbare Übernahme der Macht durch das revolutionäre Proletariat zielende Taktik und starb 1918 völlig vereinsamt.

Pierre - Joseph Proudhon

Proudhon, Pierre - Joseph, 1809/Besancon bis 1865/Paris, Sohn eines Küfers und einer Landarbeiterin. Die wirtschaftliche Not des Elternhauses bewirkte 1827 den Abbruch des Sekundarschulbesuchs und veranlaßte P., bis 1836 den Schriftsetzerberuf auszuüben. Nach dem glücklosen Versuch der Gründung einer eigenen Druckerei und intensivem theologischem und philologischem Selbststudium erhielt er 1838 ein dreijähriges Stipendium der Akademie Besancon für das Studium in Paris. 1840 veröffentlichte er seine erste Denkschrift Quest - ce que la propriété? (dt.: Was ist Eigentum?, 1844), in der er mit der für ihn charakteristischen Heftigkeit die existierende Eigentumsordnung sowie die Autorität der Kirche und des Staates kritisierte und die Frage der gesellschaftlichen Neugestaltung auf der Basis von Gleichheit und Freiheit stellte. Zwei weitere Denkschriften zur Eigentumsfrage brachten ihm 1842 eine Anklage ein wegen Angriffs auf das Eigentum und die Religion sowie wegen Aufreizung zum Klassenhaß und zur Mißachtung der königlichen Regierung. 1843 - 47 arbeitete P. in Lyon als Vertreter eines Transportunternehmens und erweiterte gleichzeitig seine politisch - philosophischen Kenntnisse durch die Diskussion mit den deutschen linkshegelianischen Emigranten in Paris ( Marx, K. Grün, auch M. Bakunin u.a.). War er schon in einer 1843 erschienenen Schrift De la création de Iordre unter dem Einfluß von I. Kant, Ch. Fourier und A. Comte zum Ergebnis gekommen, der Schlüssel zum Verständnis und der Hebel zur Veränderung der Gesellschaftsordnung sei die politische Ökonomie, so versuchte er in seinem Systeme des contradictions économiques, ou Philosophie de la misére (1846) seine oberflächlichen Hegelkenntnisse für die Klärung sozioökonomischer Zusammenhänge einzusetzen. Marx, der die erste Denkschrift zur Eigentumsfrage als »wissenschaftliches Manifest des französischen Proletariats« gewürdigt hatte, unterzog die Arbeit einer umfassenden Kritik (Misere de la philosophie, 1847, dt.: Das Elend der Philosophie, 1885). Während dieser Jahre bereitete P. eine »Société progressive« vor, die auf rein ökonomischem Wege und auf der Grundlage des Mutualismus zur - »Emanzipation des Proletariats führen sollte.
Die Februarrevolution 1848 Revolutionen im 18. und 19 Jh.) wurde von P. skeptisch aufgenommen: Er hielt ihren Zeitpunkt für verfrüht, ihre Grundlage, die insurrektionelle Massenbewegung, für ungeeignet, das allgemeine Wahlrecht und den für Irrwege des Emanzipationskampfes. Doch erst die Februarrevolution ermöglichte ihm den Schritt in eine größere politische Öffentlichkeit: als Parlamentsabgeordneter 1848/49, als Redakteur politischer Zeitungen (Représentant du Peuple, Voix du Peuple) und als Initiator des Projekts einer Volksbank, die als Vehikel der ökonomischen Befreiung dienen sollte. Nach seiner Rechtfertigung der Februarrevolution und seinem sozialistischen Bekenntnis in einer Parlamentsrede vom 31. Juli 1848 wurde P. für die dominierenden gegenrevolutionären Kräfte zum bevorzugten Ziel der Kritik und erhielt im März 1849 wegen Beleidigung des Präsidenten drei Jahre Gefängnis. Im Gefängnis schrieb er seine meistgelesene Rechenschaft Les confessions dun révolutionnaire (1849) und Idée générale de la Révolution au 19iéme siécle, wo er u.a seinen anarchistischen Vorbehalt gegenüber den anderen zeitgenössischen sozialistischen Tendenzen explizierte.
Nach dem Staatsstreich von Louis Bonaparte wurde P. an jeder öffentlichen Tätigkeit gehindert, und seine Existenz als politisch - philosophischer Schriftsteller wurde extrem schwierig. Der Veröffentlichung der Summe seiner politischen Philosophie De la justice dans la révolution et dans léglise folgte 1858 deren Beschlagnahme und eine erneute Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis. P. ging ins Exil nach Belgien, wurde 1860 amnestiert und kehrte 1862 nach Paris zurück. Von seinen Spätwerken, in denen er sich besonders der Ausarbeitung der konstruktiven Prinzipien des Mutualismus im ökonomischen und des Föderalismus im politischen Bereich widmete, waren für die spätere organisierte Arbeiterbewegung vor allem von Bedeutung Du principe fédératif (1863) und die posthum erschienene Studie De la capacité politique des classes ouvriéres (1865).

Karl Radek

Radek, Karl, 1885/Lemberg—1939(?), Sohn einer jüdischen Lehrerin, begeisterte sich auf dem Gymnasium für den polnischen Freiheitskampf und bald für den deutschen Sozialismus. Nach dem Abitur (1902) ging er nach Krakau, wollte Recht studieren und wurde statt dessen, was er ein Leben lang vor allem anderen war: Journalist in den Reihen der revolutionären Arbeiterbewegung. 1904 zog es ihn in die Schweiz, wo er sich der Auslandsorganisation der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL) anschloß. Die klassenkämpferischen Weihen bekam R. in der russischen Revolution von 1905/06. Gerade 20jährig, organisierte und agitierte er in Warschau unter Anleitung, als habe er nie anderes getan. 1908 kam er nach Deutschland. Selbstbewußt, intelligent, dazu wißbegierig und ein ernsthafter Kopfarbeiter, erkämpfte er sich binnen kurzem als Chronist und Kritiker des Imperialismus einen anerkannten Platz in der radikalen sozialdemokratischen Presse. Doch fraktionelle Auseinandersetzungen in der SDKPiL machten ihm bald Jogiches und Rosa Luxemburg zum Feind. Er wurde Opfer einer klassischen Schmutzkampagne, die 1913 zu seinem Ausschluß aus der Sozialdemokratie und nicht geringen Irritationen auf deren linkem Flügel führte. Materiell aufgefangen von den Bremer Genossen, unterstützt von Pannekoek, K. Liebknecht, Mehring und anderen, suchte R., den der Vorgang tief traf, sein Recht. Er bekam es im Frühjahr 1914, als ein untadeliger interfraktioneller Untersuchungsausschuß der russisch - polnischen Sozialdemokratie auf seine Unschuld erkannte. Gleichwohl hing ihm der Rufmord nach. Als der Krieg ausgebrochen war und der Burgfrieden herrschte, gehörte R. zu den sozialdemokratischen Kritikern der ersten Stunde. Er organisierte noch 1914 die Verbindung mit Grimm, dessen Berner Tagwacht für eine ganze Weile gleichsam das Zentralorgan der linken sozialdemokratischen Kriegsopposition im Reich war. Im Dezember 1914 ging er auf Dauer in die Schweiz und bereitete an Grimms Seite publizistisch und organisatorisch die Zimmerwalder Bewegung vor. R. näherte sich den Bolschewiki, übernahm im September 1915 das Sekretariat der Zimmerwalder Linken und blieb doch ein eigenständiger Kopf: mehr als alles andere mit der Entwicklung der deutschen Opposition befaßt und mit Lenin hier und da heftig über Kreuz. 1917 begleitete er die russischen Revolutionäre auf ihrem Weg nach Petersburg und eröffnete in Stockholm ein Kontaktbüro des ZK der Bolschewiki. Nach deren Oktobersieg gehörte R. mit G. Sinowjew und Bucharin, neben Lenin und Trotzki, zum engsten außenpolitischen Führungskreis der Sowjetmacht und der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale (Kl). Er behielt diese Position, in der er an allen wichtigen Entscheidungen der frühen Kommunistischen Weltbewegung beteiligt war, bis 1924. U.a. organisierte er mit Sinowjew 1920 den Kongreß der Völker des Ostens in Baku, leitete 1922 die Delegation der KI zur Berliner Konferenz der drei Internationalen und die Delegation der sowjetischen Gewerkschaften zur Haager Friedenskonferenz. Vor allem aber war R. der Mann im Hintergrund der KPD mal Kampfgefährte, mal Gegenpart Levis, nach dessen Ausschluß (1921) für anderthalb Jahre quasi Führer der Partei. Im Sommer 1924 als Anhänger Trotzkis in Moskau ausgebootet, bemühte sich R. in der Folge vergeblich um Versöhnung der diversen Oppositionen mit Stalin. 1925—27 amtierte er als Rektor der Sun Yatsen - Universität in Moskau. 1927 aus der KPdSU ausgeschlossen, im Januar 1928 deportiert, übte er im folgenden Jahr Selbstkritik, wurde Direktor des Informationsbüros des ZK und kommentierte wieder regelmäßig in Prawda und Iswestija. 1937 war R. eines der Opfer im 2. großen Schauprozeß. Er starb vermutlich zwei Jahre danach im Lager.

Karl Renner

Renner, Karl, 1870/Unter - Tannowitz bis 1950/Wien; 1907—18 Abgeordneter zum österreichischen Reichsrat, 1908—18 Abgeordneter zum niederösterreichischen Landtag, 1918—20 Staatskanzler der Ersten Republik, 1920 - 34 Abgeordneter zum Nationalrat, 1945 Staatskanzler (Bundeskanzler) der Zweiten Republik, 1945—50 Bundespräsident. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend (er war das 18. und letzte Kind seiner Eltern), schaffte R. unter schwersten Bedingungen den sozialen Aufstieg zum Studium, schließlich zum Parlamentsbibliothekar. Die harte Jugend war prägend für sein soziales Engagement und ließ ihn den Zugang zum Sozialismus gefühlsbetonter über Lassalle und nicht über ein Studium des Marxismus finden. Das sollte stets seine theoretische Position am rechten Parteiflügel und seine Einschätzung des Staates kennzeichnen. Um die Jahrhundertwende publizierte R., noch unter Pseudonym, Werke zur Nationalitätenfrage. Sein ausgeprägtes Personalitätsprinzip, das die Nation am ausschließlich kulturellen Ordnungselement begriff, konnte zwar in das Brünner Nationalitätenprogramm von 1899 nicht einfließen, bestimmte aber die Diskussion des Folgejahrzehnts und wurde ursprünglich sogar von Bauer geteilt. In den Marx - Studien von M. Adler und Hilferding publizierte R. sein heute noch populäres Buch Die soziale Funktion der Rechtsinstitute. 1907 schlug R. endgültig die politische Laufbahn ein und wurde Abgeordneter. Im jungen Austromarxismus begann er, sich als geistiger Widerpart zu Bauer zu profilieren, und zeichnete sich durch juristische Analysen aus, die das jeweils Machbare als Rahmen akzeptierten. So blieb R. auch bis 1918 ein Befürworter des Bestandes der Monarchie und arbeitete mit deren Regierung zusammen, um sich nach Kriegsende aber sofort an die Spitze des jungen Nachfolgestaates zu stellen. Er vertrat Österreich in Saint - Germain, akzeptierte das Anschlußverbot, ohne von dem Gedanken an den Anschluß zu lassen. Nach 1920 war R. Parlamentarier, beeinflußte das Verfassungswerk H. Kelsens und versuchte stets eine Politik des Ausgleichs. Sein Haupttätigkeitsgebiet wurde das Genossenschaftswesen, wo er sich als Gründer der Arbeiterbank Verdienste erwarb. 1931 wurde R. zum ersten Präsidenten des Nationalrates gewählt und ermöglichte am 4. März 1933 mit seinem Rücktritt, der mit der Partei abgesprochen war, unfreiwillig die Entwicklung zur Ausschaltung des Parlaments. Im Februar 1934 wurde er verhaftet.
1938 ließ sich R. von den Nationalsozialisten zu einer öffentlichen Befürwortung des Anschlusses mißbrauchen, blieb aber stets auf Distanz zu den neuen Machthabern. 1945 stellte er sich erneut an die Spitze des Staates. Es gelang ihm, das Mißtrauen zu zerstreuen, das in ihm eine willfährige Marionette der Sowjets sehen wollte. Sein Beitrag zur Einheit Österreichs war entscheidend. Im Dezember 1945 wählte ihn die Bundesversammlung in das Amt des Bundespräsidenten, das er bis zu seinem Tode ausübte. R., der Gründer beider Republiken, gilt heute als wichtigster Staatsmann Österreichs im 20. Jh.

Philipp Scheidemann

Scheidemann, Philipp, 1865/Kassel—1939/Kopenhagen, erlernte als Sohn eines Handwerkermeisters das Buchdruckerhandwerk. Nach aktiver Partei - und Gewerkschaftstätigkeit wurde er 1895 Redakteur in der lokalen Parteipresse und arbeitete bis 1911 bei verschiedenen sozialdemokratischen Tageszeitungen. Im alten Reichstag, dem er 1903—18 angehörte, fiel er durch rhetorische Fähigkeiten und gewandtes Auftreten auf. 1911 hauptamtliches Mitglied des Parteivorstandes der —+ SPD, lag sein größter Einfluß jedoch im parlamentarischen Raum, wo seine Schlagfertigkeit und sein Temperament ebensogut zur Geltung kamen wie auf Volksversammlungen. Höhepunkt von Sch.s Karriere, 1917/18 in der Nachfolge von Haase einer der beiden Vorsitzenden der Sozialdemokratie, waren zweifellos seine Reichstagsreden in der Weltkriegszeit, durch die der Begriff »Scheidemann - Frieden« als Synonym für einen Frieden der Verständigung statt des militärischen Sieges allgemein üblich wurde. Ebenso bezeichnend für seine Fähigkeit, Dolmetsch der Massenstimmung zu sein, war die spontan von ihm vorgenommene Ausrufung der Republik am 9. November 1918. Mitglied des Rates der Volksbeauftragten und erster »Reichsministerpräsident« der Republik im Februar 1919, trat Sch. schon nach vier Monaten aus Opposition gegen den Versail1er Vertrag zurück. Er wurde im November zum Oberbürgermeister von Kassel gewählt (bis 1925), gehörte 1919/20 der Nationalversammlung und 1920 - 33 dem Reichstag an. Im Sommer 1933 mußte Sch. emigrieren und gelangte über mehrere Stationen 1935 nach Dänemark.

Helmut Schmidt

Schmidt, Helmut, geb. 1918 in Hamburg, Sohn eines Studienrats, wurde nach dem Abitur zur Wehrrnacht eingezogen, schloß 1949 das Studium als Diplomvolkswirt ab und trat in die Hamburger Verwaltung ein. Seit 1946 Mitglied der SPD, 1953 - 62 MdB, 1961 - 65 Hamburger Innensenator, ab 1965 wieder MdB, wurde Sch. 1967 Vorsitzender der SPD - Bundestagsfraktion. Als Verteidigungsminister 1969—72 nahm Sch. an der Bundeswehr wichtige Reformen vor. Ab Juli 1972 stand Sch. an der Spitze des Finanzministeriums — bis November 1972 auch des Wirtschaftsministeriums — und wurde nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Brandt im Mai 1974 dessen Nachfolger. Sch.s Kanzlerschaft war überschattet von zwei weltwirtschaftlichen Rezessionen, deren Auswirkungen auf die Bundesrepublik er längere Zeit abmildern konnte. Die Wiederwahl der sozial - liberalen Koalition 1976 und 1980 war auch dem Ansehen, das Sch. weltweit genoß, zu verdanken. Nach der Entscheidung der FDP für einen Koalitionswechsel wurde Sch. am l. Oktober 1982 durch ein Mißtrauensvotum gestürzt. 1947/48 war Sch. Vorsitzender des SDS, 1958 wurde er in den SPD - Vorstand, 1968 zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD gewählt; 1984 kandidierte er nicht mehr für dieses Amt.
Sch.s Haltung in der Rüstungs -, Wirtschafts - und Sozialpolitik stieß auf Kritik in der SPD, jedoch vermieden es Partei und Bundestagsfraktion, Sch.s Kanzlerschaft zu gefährden. Nach dem Verlust des Kanzleramts zog sich Sch. aus der Parteipolitik zurück, nicht aus dem öffentlichen Leben, wo er weiter als Autor und Redner hochgeschätzt wird.

Kurt Schumacher

Schumacher, Kurt, 1895/Kulm (Chekmno) bis 1952/Bonn, wuchs in einem liberalen Elternhaus als Sohn eines Kaufmanns auf, besuchte ein humanistisches Gymnasium, legte bei Ausbruch des I. Weltkriegs das Notabitur ab und meldete sich als Kriegsfreiwilliger. Im Dezember 1914 schwer verwundet — Verlust des rechten Arms —, studierte er 1915—19 Rechts -, Staats - und Wirtschaftswissenschaften und promovierte 1920 zum Doktor rer.pol. Im Januar 1918 schloß sich Sch. der SPD an und war 1920 - 30 politischer Redakteur der Schwäbischen Tagwacht in Stuttgart.
1924 - 31 Abgeordneter des Württembergischen Landtags, 1930 - 33 des Reichstags, in beiden Parlamenten Mitglied des Vorstands der SPD - Fraktion, seit 1927 Vorsitzender der SPD in Stuttgart, gehörte Sch. zu den aktiven und fähigen jungen Sozialdemokraten, die es schwer hatten, sich gegen die Führungsschicht der Partei durchzusetzen. Im Reichstag trat Sch. hervor, als er am 23. Februar 1932 in einer Rede gegen die NSDAP sagte: »Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen.« Nach Hitlers Machtübernahme beteiligte sich Sch. sofort am Widerstand gegen das NS - Regime und wurde am 6. Juli 1933 verhaftet. Bis März 1943 blieb er in »Schutzhaft« in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Danach wurde ihm ein Zwangsaufenthalt in Hannover zugewiesen. Im August 1944 erfolgte erneute Inhaftierung.
Bereits im Mai 1945 wurde in Hannover das »Büro Schumacher«, inoffizielle Zentrale der SPD, eingerichtet. Von da an war Sch. unumstritten der führende Mann der SPD und wurde der eindrucksvollste deutsche Politiker der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Parteitag in Hannover (Mai 1946) wählte Sch. zum Parteivorsitzenden; durch dreimalige Wiederwahl behielt er dieses Amt bis zu seinem Tod. Im September 1948 mußte sein linkes Bein amputiert werden, doch auch während der monatelangen schweren Krankheit nahm er die Parteiführung wahr. Im ersten Bundestag wurde er Vorsitzender der SPD - Fraktion.
Sch., der sich in der Weimarer Republik leidenschaftlich für eine kämpferische Politik gegen alle Antidemokraten eingesetzt, der in der NS - Zeit Entsetzliches erlitten hatte, verstand sich als Repräsentant und Sprecher des »anderen Deutschland«, das sich der NS - Diktatur nicht gebeugt hatte und darum Anspruch auf faire Behandlung durch die Siegermächte habe. Sch.s politisches Ziel war die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit, er forderte Selbstbestimmungsrecht und Gleichberechtigung der Deutschen in der internationalen Politik. Sch.s Ablehnung »kleineuropäischer« Lösungen EVG, Europarat, Montanunion — ebenso wie seine Opposition gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik waren Konsequenzen seines Bemühens, die Schaffung von Tatsachen zu vermeiden, die die —»Spaltung Deutschlands und Europas zementieren könnten. Die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesrepublik und die internationale Mächtekonstellation verhinderten die Realisierung von Sch.s außen - und nationalpolitischen Vorstellungen.
Auch in der Innenpolitik hat Sch. seine im wesentlichen an den —+ Programmen der SPD orientierten Ziele nur teilweise erreicht. Doch gehören der schnelle Aufbau der SPD, ihre Öffnung für neue Schichten, die Festigung ihres demokratischen Selbstverständnisses und ihres staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins zu Sch.s historischen Leistungen, ebenso wie seine erfolgreiche Abwehr kommunistischer Einflüsse und Ansprüche im westlichen Teil Deutschlands.

Giacinto Memotti Serrati

Serrati, Giacinto Menotti, 1872/Spotorno bis 1926/Asso, gründete 1892 die Sozialistische Liga in Oneglia. Nachdem er 1893—97 mehrmals wegen seines Engagements verhaftet worden war, entzog er sich der politischen Verfolgung durch Emigration und war in der Folge u.a. in Frankreich, der Schweiz und den USA propagandistisch und organisatorisch für die Arbeiterbewegung tätig. S. kehrte 1911 nach Italien zurück und schloß sich der ab 1912 in der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) dominierenden maximalistischen Fraktion an. 1914 übernahm er die Direktion des Avanti! und wurde in die Parteileitung gewählt. Aufgrund seiner kompromißlosen Ablehnung der italienischen Kriegsteilnahme und seines internationalistischen Engagements — Teilnahme an der Zimmerwalder (1915) und der Kientaler Konferenz (1916) der Zimmerwalder Bewegung — wurde S. während des Krieges zur bestimmenden Persönlichkeit des PSI. 1917 solidarisierte er sich mit der Oktoberrevolution und bewirkte 1919 den Anschluß des PSI an die Kommunistische Internationale, zu deren 21 Bedingungen er sich allerdings erst 1922 voll bekannte. 1923 wurde er daraufhin zusammen mit der »drittinternationalistischen« Fraktion aus dem PSI ausgeschlossen. Er vereinigte diese 1924 mit der Italienischen Kommunistischen Partei, in der er bald darauf als Mitglied des ZK und Direktor des Sindacato Rosso eine wichtige Stellung einnahm. In der innerparteilichen Auseinandersetzung unterstützte er die Position Gramscis.

SPD / Sozialdemokratie

Italienische Sozialistische Partei (Partito Socialista Italiano PSI), gegründet 1892 unter maßgeblicher Beteiligung Turatis in Genua. In bewußter Abgrenzung zu anarchistischen Strömungen entwickelte sich der PSI zur ersten modernen Massenpartei des Landes mit fester sozia1er Verankerung in den Gewerkschaften und Genossenschaften. Wie kaum eine andere Partei in Westeuropa litt der PSI hinfort unter einer Vielzahl von Abspaltungen, wobei die Loslösung der linksradikalen Gruppe um A. Bordiga und Gramsci und deren Konstituierung zur KP (1921) langfristig am einschneidendsten wirkte.
Mit 558000 Parteibuchbesitzern (1984) nimmt der PSI mitgliedsmäßig die dritte Position unter den italienischen Parteien ein (Italienische KP PCI: 1619000; Christdemokratische Partei DC: 1200000). Gleichwohl übt er im italienischen Parteiensystem seit Jahren eine Schlüsselfunktion aus: Als dritte Partei unter den Großen eher denn als erste Partei unter den Kleinen hat es der PSI mit seinen 11, 4% Wählerstimmen (1983) verstanden, sich für jede Form der Regierungsbildung unentbehrlich zu machen und das Verhalten der beiden Machtblöcke DC und PCI in starkem Maße zu konditionieren. Unter den demokratischen Sozialisten blieb der PSI nach 1945 zunächst isoliert, da er sich im Zeichen des Einheitspakts mit den Kommunisten (bis 1956) außenpolitisch auf Moskau orientierte. Erst seit der unter der Führung von Nenni betriebenen Wiedervereinigung mit der Italienischen Sozialistischen Demokratischen Partei PSDI (1966 - - 69) arbeiten die italienischen Sozialisten aktiv in der Sozialistischen Internationale mit.
In der geographischen Verteilung und sozialen Zusammensetzung der PSI - Mitglieder, die in 8271 lokalen Sektionen und 1278 Betriebsgruppen organisiert sind, vollzogen sich in der Nachkriegszeit wesentliche Veränderungen. So konnte die Partei, die ihre Hochburgen zunächst vor allem im industrialisierten Norden des Landes gehabt hatte, auch im Süden zahlreiche neue Anhänger gewinnen. Die gegenwärtige geographische Verteilung der Mitgliederschaft ergibt folgendes Bild: 41 % im Norden (und hier vor allem in der Lombardei mit der Hauptstadt Mailand), 20, 6% im Zentrum und 38, 1 % im Süden (einschließlich Sizilien und Sardinien). Diese Verschiebung trug wesentlich zur Veränderung in der sozialen Zusammensetzung des PSI bei: Aus der traditionellen Arbeiterpartei mit starker gewerkschaftlicher Verankerung (Arbeiteranteil 1945: 62 %) ist der PSI zu einer Mittelschichtenpartei mit nur noch begrenztem Arbeiteranteil geworden (1982: 26%). Dieser Trend in Richtung auf eine Mittelschichtenpartei wird noch deutlicher auf der Kaderebene, wo die Angestellten im öffentlichen Dienst, die Lehrer und Dozenten sowie die freiberuflich Tätigen den Arbeiteranteil unter 10% gedrückt haben.
Von zentraler Bedeutung für die — gemessen an den westeuropäischen Schwesterparteien — relative Schwäche des PSI ist die Tatsache, daß er im Gegensatz zu DC und PCI keinen der wichtigen Verbände und Organisationen dominiert (sieht man einmal ab von der UIL, der drittstärksten Richtungsgewerkschaft Italiens). Diese Schwäche ist auf die bis Mitte der 50er Jahre währende Periode der Aktionseinheit mit den Kommunisten zurückzuführen, als der PSI auf diesem Felde Führung und Initiative dem PCI überließ. So haben die Sozialisten bis heute in Großorganisationen wie der CGIL - Gewerkschaft sowie dem Verband der Genossenschaften und Kreditkassen zwar immer rund ein Drittel der Vorstandsposten besetzt.
Aufgrund ihrer Minderheitsposition vermochten sie aus dem sozialen Bereich heraus jedoch kaum Schubkraft zur Unterstützung ihrer eigenen Aktivitäten auf parlamentarisch - politischem Felde zu entwickeln.
Seit Kriegsende schrumpfte der PSI in verschiedenen Stufen zu einer Zehn - Prozent - Partei, nachdem er bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung von 1946 mit 20, 7% der Stimmen noch knapp vor den Kommunisten gelegen hatte (KP 1946: 19%; 1983: 29, 9%). Dabei verschafft ihm allerdings seine strategische Position als Scharnier zwischen DC und PCI einen politischen Mehrwert, den er flexibel zur Maximierung seiner Positionen in Regierung, Verwaltung sowie im öffentlichen Wirtschafts - und Bankensektor nutzt: 1983 hielt er nicht nur das Amt des Staatspräsidenten (S. Pertini) und des Ministerpräsidenten (B. Craxi) besetzt; auch in der Administration der Gemeinden und der — unseren Ländern vergleichbaren — Regionen war er stark überrepräsentiert.
Einen Wendepunkt in der Geschichte des PSI markierte die Übernahme der Parteileitung durch die von Craxi geführte Gruppe der »Reformisten« (1976). Gemeinsam mit der linkssozialistischen Strömung um R. Lombardi stürzte sie zunächst den Parteichef F. De Martino, einen Vertreter der traditionellen Linken. Anschließend drängte Craxi auch die Lombardi - Gruppe an den Rand, so daß seine Anhänger 1984 über rund 70% der Delegiertenmandate verfügten (Linkssozialisten: 20 %, Traditionslinke: 10 Im übrigen nahm sich die neue Führung die mediterranen Schwesterparteien zum Vorbild, indem sie die Partei bewußt auf ihren Chef Craxi zuschnitt.
Inhaltlich warf sie alle marxistisch - maximalistischen Residuen über Bord und definierte sich 1981 als »Partei der demokratischen, europäischen, westlichen, laizistischen und reformorientierten Erneuerung«. Ziel Craxis ist es, den PSI zu einer grundwerteorientierten modernen Regierungspartei sozial - liberalen Zuschnitts zu machen.
Entsprechend deutlich profilierte sich der PSI als eine Partei der europäischen und atlantischen Zusammenarbeit. Der Politik des Ausgleichs mit der sowjetisch geführten sozialistischen Gemeinschaft steht der PSI eher skeptisch gegenüber, was zu gelegentlicher Kritik an ostpolitischen Positionen der SPD führt. Diese Haltung ist jedoch weniger Element eines außenpolitischen Gesamtkonzepts. Vielmehr kann sie als Ausdruck der innenpolitisch motivierten Absicht des PSI gewertet werden, sich bewußt von der eigenen Vergangenheit enger Anlehnung an die sowjetische Linie zu distanzieren sowie sich gegenüber den Wählern und den NATO - Partnern als die eigentlich prowestliche Partei der italienischen Linken darzustellen.
Innenpolitisch - programmatisch verwirft der »neue Reformismus« des PSI die Kategorien des Klassenkampfes und der Einleitung tiefgreifender ökonomisch - sozialer Strukturreformen mit dem Ziel einer »Überwindung des Kapitalismus«. Statt dessen setzt er auf eine evolutionäre Dynamik, in der der gesellschaftspolitische Wandel im Rahmen des bestehenden Systems über einen staatlich vermittelten Ausgleich der Interessen gesteuert wird. Nicht zufällig stellte der PSI in das Zentrum seiner Politik die »governabilita« — die Absicht also, das Land durch Verbesserung der Funktionsweise des Gesamtsystems regierbar zu machen und »den Wandel zu kontrollieren«. In diesem Sinne begrüßen und fördern die Sozialisten Tendenzen zu konzertierten Aktionen mit sozialpaktähnlichen Abschlüssen. Gleichzeitig treten sie für einen Abbau des Klientelismus und des Assistenzialismus ein, die von DC und PCI zur Ausdehnung ihrer politischen und sozialen Einflußzonen gepflegt würden. Beides behindere die notwendigen industriellen Umstrukturierungen und blockiere die Transformation des Landes in einen fortschrittlichen Sozialstaat.
Im »neuen Reformismus« Craxis drückt sich zum einen die Absicht des PSI aus, die Überreste des historisch gewachsenen sterilen »Maximalismus« in seinen Reihen zu überwinden sowie die Partei endgültig aus der ideologischen Abhängigkeit vom PCI zu lösen, in die sie sich in der Periode des Bündnisses mit den Kommunisten im Zeichen der Volksfront begeben hatte. Diese Strategie wird auch in der unterschiedlichen Bündnispolitik der beiden zentralen Gruppen im PSI deutlich. Für die Lombardi - Linke dient die Stärkung des PSI in erster Linie dazu, langfristig die Voraussetzungen für eine linke Regierungsalternative unter Einschluß des PCI zu schaffen, wenn sich dieser von seinen leninistischen Residuen befreit und außenpolitisch eine eindeutige Option für den Westen vollzogen hat. Die Mehrheit um Craxi dagegen zielt, fixiert auf den westeuropäischen »Normalfall«, auf eine Alternanz in der Führung von Mitte - Links - Regierungen — auf eine Konstellation also, in der die DC - dominierten Konservativen und die auf den PSI bezogenen Reformkräfte der kleineren laizistischen Parteien einander in der Regierung ablösen. Ein Erfolg dieser Strategie werde eine Dynamik auslösen, in deren Gefolge der PSI den PCI an Wählerstimmen übertrifft und als führende Kraft eines demokratisch - sozialistischen Blocks den fortschrittlichen Pol im politischen System Italiens bildet.
Zum anderen knüpft der »neue Reformismus« des PSI an die Strukturänderungen des entwickelten Kapitalismus an, der den Prozeß der Säkularisierung sowie die soziale Mobilität und Differenzierung auch in Italien enorm beschleunigt. Die gesellschaftliche Polarisierung, die in der Nachkriegsperiode ihren politischen Ausdruck in den beiden Machtblöcken DC und PCI sowie in deren Subkulturen und flankierenden Organisationen gefunden hatte, werde durch einen Drang zur Mitte überlagert, der von den dynamischen »aufsteigenden Schichten« in Produktion, Lehre und Verwaltung ausgehe. Die »neuen Bedürfnisse« dieser Schichten richteten sich nicht auf konfliktuelles Gegeneinander und auf eine Expansion der Staatstätigkeit, analysiert der PSI. Vielmehr wünschten sie ein Konzept der Regierbarkeit, das einerseits für eine größere Effizienz des Institutionengefüges sorgt und andererseits darauf hinwirkt, den einzelnen von staatlicher Bevormundung zu befreien und ihn in seinen persönlichen Entfaltungschancen zu stärken. Aus der Sicht des PSI sind die historischen Massenparteien der Arbeiterbewegung in Europa — die sozialdemokratischen Parteien im Norden ebenso wie die »eurokommunistischen« Parteien des Südens — mit ihrer schwerpunktmäßigen Verankerung in der Industriearbeiterschaft immer weniger in der Lage, den sozialstrukturellen Wandel in ihrer Politik zu berücksichtigen sowie die subjektiven Aspirationen der Menschen frühzeitig zu registrieren und zu verarbeiten. Seiner Ansicht nach haben Sozialisten nur dann eine Chance, wenn sie es verstehen, sich in der Regierung als kompetente Parteien des Krisenmanagements und der Modernisierung zu profilieren sowie dem Land eine überzeugende politische Botschaft zu vermitteln. Nicht zufällig konzentriert sich der PSI daher bei der Suche nach Konsenserweiterung auf eine möglichst umfassende »Repräsentanz von oben« (G. Pasquino); die soziale Schubkraft von unten hat für ihn nur noch nebensächliche Bedeutung.
Probleme und Perspektiven. Zweifellos hat der PSI unter Craxi mit seinem Konzept der Regierbarkeit ein Thema aufgegriffen, das dem weit über die »aufstrebenden Schichten« hinausreichenden Verlangen nach Kompetenz, Effizienz und Modernisierung entgegenkommt. Dennoch ist ein Erfolg der neuen Linie keineswegs sicher. Mit seinem eher auf Machbarkeit zielenden Konzept der Repräsentanz von oben hat er sich faktisch von den neuen sozialen Bewegungen abgekoppelt, so daß seine Anziehungskraft beispielsweise auf die jüngere Generation relativ gering ist. Darüber hinaus widersprechen die nach wie vor stark klientelbestimmten inneren Strukturen des PSI seiner Botschaft von Regierbarkeit und Selbstverwirklichung; nicht zufällig mußte der PSI 1983 gerade in den urbanen Zentren des Nordens Verluste hinnehmen — dort also, wo sich seine zentralen Bezugsgruppen konzentrieren.

Italienische Sozialistische Demokratische Partei (Partito Socialista Democratico Italiano PSDI), entstanden Anfang 1947, als sich der rechte Flügel der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) unter Führung von G. Saragat aus Protest gegen die enge Zusammenarbeit mit der Italienischen KP (PCI) von der Mutterpartei abspaltete. Mit rund 250000 Mitgliedern und einer zwischen 3% und 7% schwankenden Wählergefolgschaft (Parlamentswahlen 1983: 4, 4 %) zählen die Sozialdemokraten zur Gruppierung der kleineren, »laizistisch« orientierten Parteien Italiens. Der PSDI gehört zu den Gründungsmitgliedern der Sozialistischen Internationale, in die die Sozialisten erst nach der Wiedervereinigung mit den Sozialdemokraten (1966) aufgenommen wurden.
Verankerung und Programmatik. Sozial gesehen schrumpfte der PSDI in den 60er Jahren zu einer Mittelschichtenpartei mit nur noch schwacher Verankerung in der Industriearbeiterschaft (rund 14%). Dies kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, daß die Sozialdemokraten die gemeinsam mit den Republikanern ausgeübte Kontrolle über die UIL - Richtungsgewerkschaft Ende der 60er Jahre an die Sozialisten verloren. Das soziale Rückgrat der Partei bildeten immer stärker Angehörige aus Verwaltung, Justiz, Schule und Hochschule sowie aus dem Dienstleistungsbereich — Personengruppen also, die zwar mit der politischen Linie der Christdemokraten (DC) weitgehend übereinstimmen, von ihrer antiklerikalen Grundhaltung her aber nicht für die DC optieren wollen. Aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus verstanden sich die Sozialdemokraten als streng antikommunistische und antisowjetische Partei. Als linker Flügel des zentristischen Parteienblocks unter Führung der DC suchten sie sich als Vorkämpfer einer sozial abgesicherten Marktwirtschaft sowie eines vorbehaltlosen Atlantismus zu profilieren.
Tendenzen zur Wiedervereinigung. Gleichwohl gingen darüber die reformistischen Traditionen der Partei nicht völlig verloren: Unter dem Impuls ihrer historischen Figuren Saragat und Nenni kam es 1966 zur Wiedervereinigung von Sozialdemokraten und Sozialisten zur Vereinigten Sozialistischen Partei (Partito Socialista Unificato PSU). Ziel dieser Politik war es, durch eine Fusion der traditionellen maximalistischen und reformistischen Strömungen des italienischen Sozialismus den PCI zu marginalisieren und dem Wähler als Gegengewicht zu den Christdemokraten langfristig eine programmatisch überzeugende und politisch durchschlagskräftige demokratisch - sozialistische Alternative anzubieten. Bereits 1969 jedoch brach der PSU an seinen inneren Gegensätzen wieder auseinander. Die sozialdemokratische Strömung wollte zunächst die Mitte - Links - Koalition stabilisieren und drängte daher auf eine eindeutige ideologisch - politische Abgrenzung gegenüber dem PCI. Bei den Sozialisten dagegen stärkte das Scheitern der Reformpolitik dieser Koalition in Verbindung mit der Aufbruchsstimmung nach 1968 umgekehrt gerade jene Tendenzen, die für eine Öffnung zum PCI eintraten, weil sie in ihm längerfristig den eigentlichen Bündnispartner für eine Politik einschneidender Strukturänderungen sahen. Die durch den Revisionismus des PCI bewirkte Krise des Antikommunismus führte in den 70er Jahren folgerichtig zu einer Krise des antikommunistischen PSDI. Erst mit der Übernahme der Führung durch die »Linke« um P. Longo (1976) gelang die Stabilisierung der Partei, die heute in zahlreichen Gemeindeverwaltungen auch mit Kommunisten zusammenarbeitet. Programmatisch - politische Gegensätze zum PSI sind kaum noch erkennbar, nachdem B. Craxi dieser Partei ein neo - reformistisches Profil gegeben und der vom PCI angestrebten »linken Alternative« eine klare Absage erteilt hat.

Spanien / Spanischer Bürgerkrieg

Spanischer Bürgerkrieg, Folge des von nationalistischen, traditionalistischen, falangistisch - faschistischen und konservativen Kräften getragenen und von Militärs geführten fehlgeschlagenen Aufstands gegen die II. Republik. Der Putsch und der daraus resultierende Bürgerkrieg waren ihrem Ursprung nach primär ein Ergebnis unbewältigter innerspanischer Probleme politischen, ideologischen und vor allem sozialen Inhalts. Lange Zeit waren in der Diskussion über den S. B. zwei Verschwörungstheorien vorherrschend: Die eine sprach von einer faschistischen Anzettelung, die andere von einer kommunistischen Bedrohung Spaniens als Kriegsursache.
Allerdings waren weniger die faschistische Falange bzw. die Kommunisten als vielmehr politischer Militarismus/Rechtskonservativismus und Anarchismus/Linkssozialismus in ihrer jeweils spezifisch spanischen Ausprägung die entscheidenden, zum Bürgerkrieg führenden Triebkräfte. Von Anfang an erregte der Krieg in der europäisch - amerikanischen Öffentlichkeit heftige Anteilnahme, die von literarisch - publizistischer Parteinahme bis zum persönlichen Kriegsdienst (zumeist für die Republik) reichte. »Internationalisiert« wurde der Krieg aber vor allem durch das Eingreifen ausländischer Mächte: Deutschland (vor allem durch die Legion Condor) und Italien (durch den Corpo Truppe Volontarie) unterstützten die Aufständischen, die UdSSR und die unter maßgeblicher kommunistischer Leitung stehenden Internationalen Brigaden halfen der Republik; England, Frankreich und die USA bekannten sich zum Prinzip der »Nichteinmischung« (Einsetzung eines »Nichteinmischungskomitees« in London).
Parallel zu den militärischen Aktionen begann in der »nationalen« Zone F. Francos der Aufbau eines »Neuen Staates« mit seiner diktatorialen Struktur, während im republikanisch gebliebenen Landesteil eine soziale Revolution begann, die vor allem von Mitgliedern der millionenstarken anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Confederaciön Nacional del Trabajo, zu einem geringeren Teil auch von Linkssozialisten der Union General de Trabajadores und antistalinistischen Marxisten getragen wurde. Ziel dieser sozialrevolutionären Umwälzung war die Errichtung einer sozialistischen Wirtschafts - und Gesellschaftsordnung. Zu Hauptgegnern der schon vor dem franquistischen Sieg gescheiterten Revolution wurden die stalinistischen Kommunisten der Kommunistischen Partei Spaniens und die übrigen Parteien der Volksfront. Der Sieg Francos im S. B., der sowohl durch die deutsch - italienische Unterstützung als auch durch die Politik der Nichtintervention und die innere Zerrissenheit der politischen Kräfte der Republik ermöglicht wurde, bedeutete für Spanien den Beginn einer fast 40jährigen Diktatur. Die Kriegskosten gab die nationalistische Seite mit 30 Mrd. Peseten an. Die Zahl der Getöteten beläuft sich wahrscheinlich auf über 500000; hinzu kommen noch etwa 400000 nach 1939 politisch Exilierte.

Josef Wissarionowitsch Stalin

Stalin, Josef Wissarionowitsch (eigentlich Dshugaschwili), Decknamen Koba, Sosso, 1879/bei Gori—1953/Moskau, sowjetischer Politiker; Grusinier. Nach formal unabgeschlossener Schulbildung (u.a. Priesterseminar) Berufsrevolutionär. 1898 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, 1904 der bolschewistischen Richtung, 1912 ins ZK kooptiert, mehrfach verbannt; 1917 Redakteur des Parteiorgans Prawda, Mitglied der 1. Sowjetregierung als Volkskommissar für Nationalitätenfragen, 1922 Generalsekretär
der *KPdSU, ab 1929 faktisch Alleinherrscher der Partei. 1941 Vorsitzender des Rats der Volkskommissare (1946: Ministerpräsident), Oberbefehlshaber der Streitkräfte, 1943 Marschall, 1945 Generalissimus. Teilnehmer an den Kriegsendkonferenzen in Teheran, Jalta, Potsdam. Nach 1945 führender Politiker Osteuropas. Mit der Herausbildung der Vertreter des Parteiapparats und der Administration als neuer Machtelite, die S. als Generalsekretär förderte, erster Repräsentant dieser »neuen Klasse« (+ Djilas). Drängte seit 1925 seine verschiedenen Opponenten (u.a. Trotzki, L. B. Kamenew, G. J. Sinowjew, Radek, Bucharin) zunächst aus der Führung, dann aus der Partei, illegalisierte die Opposition und ließ sie seit 1934 auch physisch liquidieren.
Damit einhergehend Abwendung von der weltrevolutionären Politik, löste 1943 die Kommunistische Internationale auf. Zwangkollektivierung und Industrialisierung (Fünfjahrespläne) ab 1929 vernichteten bäuerlichen Mittelstand und Großbesitz (Kulaken), schufen aber neues Proletariat und damit die Grundlage nachkapitalistischer industrieller Entwicklung unter der Herrschaft der neuen Machtelite Stalinismus), die mit staatsterroristischen Mitteln (Säuberungen, Schauprozesse, Massendeportationen, Zwangsarbeitslager, politische Repression durch Geheimpolizei, administrative Bestrafung ohne Gerichtsbeschluß) rigoros durchgesetzt wurde.
Dieser Politik fielen 15 bis 25 Mio. Menschen zum Opfer. S.s absolute Parteiherrschaft äußerte sich früh in Personenkult, in dem S. zum bedeutenden Theoretiker des Marxismus und Vollender des Leninismus stilisiert wurde. Er entwickelte die Leitthese vom »Sozialismus in einem Land«: Nach dem zeitweiligen Scheitern der Weltrevolution muß die UdSSR als erstes »sozialistisches« Land von allen Kommunisten verteidigt werden; Beharren auf revolutionärem Kurs gilt als Abweichung (Trotzkismus); Sozialdemokraten gelten zeitweise als »Sozialfaschisten«; Volksfront zur außenpolitischen Absicherung der UdSSR gegen Hitlerdeutschland. Diese These wurde Richtschnur aller kommunistischen Parteien, nur wenige (China, Jugoslawien) entzogen sich. Das theoretische Werk S.s widerspiegelt die Führung der UdSSR in der kommunistischen Bewegung, ist aber kaum originell. Eigene Beiträge: u.a. Marxismus und nationale Frage (1913 unter Anleitung Lenins), Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft (1952), Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR (1952). Nach S.s Tod langsame Lockerung der Repression, auch in den Volksdemokratien. 1956 Verurteilung S.s durch Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU, danach Entstalinisierung, die den Personenkult abbaute, die Struktur des Systems aber kaum antastete. Weitere öffentliche Verurteilung auf dem XXII. Parteitag 1961, danach allmählich Neubewertung, vor allem als Sieger im »Großen Vaterländischen Krieg« (1941 - 45), aus dem die UdSSR als zweite Großmacht nach den USA hervorging.

Ernst Thälmann

Thälmann, Ernst, 1886/Hamburg—1944/Buchenwald. T. war seit 1902 Hafenarbeiter, dann Kutscher, 1915—18 Soldat, danach wieder Arbeiter, 1919—21 Angestellter des Arbeitsamtes Hamburg, Redakteur der Hamburger Volkszeitung. Er wurde 1903 Mitglied der SPD, 1904 des Deutschen Transportarbeiter - Verbandes, ging 1918 zur USPD (Anschluß an die Revolutionären Obleute), im Mai 1919 deren Vorsitzender in Hamburg; im Dezember 1920 Mitglied der VKPD bzw. der KPD, im Januar 1921 deren l. Vorsitzender in Hamburg, im gleichen Jahr Mitglied der Bezirksleitung Wasserkante, hauptamtlicher Parteisekretär in Hamburg sowie Mitglied des Zentralausschusses, seit 1923 in der Zentrale (1925 ZK) der KPD; 1924 zunächst Kandidat, dann Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (KI) und seines Präsidiums; im Februar 1925 Vorsitzender des Roten Frontkämpferbundes, im August Vorsitzender der KPD, im November Mitglied des Politbüros; 1919—33 Mitglied der Hamburger Bürgerschaft, 1924—33 des Reichstags. T. war bis zur Übernahme der KPD - Führung in den Parteien, denen er angehörte, ein Vertreter radikaler, linker Tendenzen. Größere Bekanntheit erwarb er, als er zur Zeit der »ultralinken« sogenannten Fischer/Maslow - Führung 1925 als Kandidat für die Reichspräsidentschaft aufgestellt wurde (1932
erneut Präsidentschaftskandidat). Als KPD - Vorsitzender führte er willig die jeweiligen KI - Direktiven durch, nach der sogenannten Wittorfaffäre 1928 auch den ultralinken Kurs. Sein Name ist eng verbunden mit der »Bolschewisierung« der KPD im Sinne Stalins. Seit dem März 1933 war T. inhaftiert, im August 1944 wurde er im KZ auf Befehl ermordet.

Josip Broz Tito

Tito (eigentlich Josip Broz), 1892/Kumrovec bis 1980/Belgrad, zählt zu den großen Staatsmännern des 20. Jh.s. Seine historischen Leistungen: Aus einem durch Krieg, Okkupation und Bürgerkrieg auseinandergefallenen Vielvölkerstaat formte er ein Jugoslawien der klaren nationalen Größe, dessen fester Bestand Vorrang vor den (Einzel - )Nationalitäten hat. Er machte den jugoslawischen Kommunismus von Moskau unabhängig und zu einer eigenen Lehre, die zunehmende Anziehungskraft auf die kommunistische Welt ausübt. Er ist einer der Väter der Politik der Blockfreiheit, die zu einem bedeutenden weltpolitischen Faktor geworden ist.
T. hatte einen kroatischen Vater und eine slowenische Mutter, lebte meist in Serbien und errang die größten militärischen Siege in Bosnien. Er war ein jugoslawischer Patriot. Dies war der Impetus seines langen politischen Lebens, der Motor seiner Handlungen. Als T. 1937 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens wurde, war er einer der treuesten Anhänger Stalins, dem er blind vertraute. Er verteidigte den Hitler - Stalin - Pakt und eröffnete den Kampf gegen die deutschen Besatzer erst, als der deutsche Überfall auf die SU begann. Um so tiefer reichte die Enttäuschung, als Stalins Nachkriegspolitik offenbar wurde und Jugoslawien unter die Vasallen Moskaus eingereiht werden sollte. T., der siegreiche Partisan, war nicht der Mann, sich von Stalin bevormunden zu lassen. Der eigene jugoslawische Weg begann. Er begann mit Schwierigkeiten. Abgekoppelt vom sowjetischen Herrschaftsbereich, mißtrauisch beobachtet vom Westen, blieb Jugoslawien auf sich allein gestellt. Das Land durchlebte eine Krise, die den Zuständen der Kriegszeit in keiner Weise nachstand. T. wurde zur zentralen Führerfigur. Er suchte und fand unter Mithilfe enger Weggefährten den eigenen, auch ideologisch eigenen Weg.
Interessanterweise wollte er sich dies zunächst nicht eingestehen. Das Schlagwort vom Titoismus wies er damals scharf zurück. Erst ganz allmählich wuchs die Basis eines politisch und ideologisch unabhängigen kommunistischen Staates. T.s Erfolgsrezept: Er war ein großer Pragmatiker. Der geopolitische Faktor war einer seiner politischen Trümpfe. Er akzeptierte Chruschtschows von der kommunistischen Welt mit Spannung verfolgten Canossagang nach Belgrad und sah darauf, die jugoslawisch - sowjetischen Beziehungen im Gleichgewicht zu halten. Gleichzeitig machte er den Amerikanern klar, welche strategische Bedeutung einem militärisch starken und wirtschaftlich gesunden Jugoslawien zukomme. Innen herrschte T. autokratisch. Er schlug unbarmherzig zu, wo das System in Frage gestellt oder nationale Rivalitäten sichtbar wurden. Er lockerte die Zügel, wo Liberalisierung dem System nutzen konnte. Der jugoslawische Selbstverwaltungskommunismus hat von T.s Außenpolitik wirtschaftlich profitiert. Das ließ eine realistische Bewertung seiner internen Funktionsfähigkeit nicht zu und hat Illusionen geweckt. Deshalb tun sich T.s Erben schwer. Seit seinem Tod wachsen die Probleme. Die Selbstverwaltung ist schwerfällig, das Rotationsprinzip in der politischen Führung hinderlich, das Nord - Süd - Gefälle gefährlich, und neue nationale Rivalitäten sind alarmierend. Zu sehr war alles auf T. zugeschnitten und vieles unausgereift. Nur ein Demokratisierungsprozeß könnte jetzt helfen. Sonst ist T.s Erbe in Gefahr.

Palmiro Togliatti

Togliatti, Palmiro, 1893/Genua—1964/Jalta, studierte in Turin Jura und trat dort 1914 der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) bei. Er gründete 1919 mit Gramsci den Ordine Nuovo und war 1921 in Livorno an der Abspaltung der kommunistischen Fraktion des PSI und der Gründung der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) beteiligt. Seit 1922 in deren ZK, wurde T. nach Gramscis Verhaftung (1926) Parteisekretär des PCI. Noch im selben Jahr ging er in die Emigration, die ihn nach Frankreich, Deutschland, Spanien (dort 1937—39 Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg) und 1940 in die SU führte. Auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale, deren Exekutivkomitee und Präsidium er 1924 - 43 angehörte und für die er 1926/27 und 1931 - 43 als Sekretär arbeitete, trat T. 1935 auf der Basis einer differenzierten Faschismusanalyse als Vertreter der Volksfront - Politik hervor. Diese Strategie hatte dem PCI 1934 schon die Vereinbarung eines Aktionspaktes mit dem PSI ermöglicht. Nach der Rückkehr nach Italien (1944) leitete T. mit der »Wende von Salerno« eine — zunächst auch taktisch motivierte — organisatorische und politische Umorientierung des PCI ein. Diese umfaßte neben dessen Umwandlung zur Massenpartei einen differenzierenden Bezug auf die parlamentarische Demokratie und eine alle antifaschistischen Parteien umgreifende Bündniskonzeption. Unter diesen Voraussetzungen bekleidete T. in den Koalitionsregierungen von 1944 bis 1946 verschiedene Ministerämter (u.a. Justizminister und stellvertretender Ministerpräsident). Den Wandlungsprozeß des PCI setzte er 1956 nach dem XX. Parteitag der KPdSU auf der Grundlage der dort von ihm vertretenen Position des »Polyzentrismus« im Entwurf eines besonderen »italienischen Weges zum "Sozialismus" fort. Die schrittweise Distanzierung vom —5 Stalinismus und die Konkretisierung dieses Konzepts fanden ihren Höhepunkt in dem kurz vor dem Tod von T. verfaßten Memorandum von Jalta. Darin schuf T. u.a. durch die Betonung des notwendigen Zusammenhangs von Demokratie und Sozialismus und die damit verbundene Kritik an der SU eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Entwicklung der Konzeption des Eurokommunismus und in gewisser Weise auch für die Strategie des »historischen Kompromisses«.

Leo Trotzki

Trotzki, L. (eigentlich L.D. Bronstein), 1879/Janowka—1940/Coyoacan, herausragende Persönlichkeit der revolutionären und kommunistischen Bewegung, entscheidend an der Etablierung der bolschewistischen Diktatur beteiligt, später einer der schärfsten Kritiker des Stalinregimes. T. nahm in seiner südukrainischen Heimat schon früh an illegaler politischer Arbeit teil, wofür er 1899 zu vier Jahren Verbannung nach Sibirien verurteilt wurde, aus der er aber bald entfliehen konnte. Er nahm regen Anteil an der Entstehung und Entwicklung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, wobei er — gegen Lenin — demokratische Organisationsprinzipien verfocht und die Eigeninitiative der Arbeiterschaft hervorhob. Während der Revolution von 1905 fungierte er zeitweise als Vorsitzender des Petersburger Sowjet. Nachdem T. auch aus einer erneuten Verbannung fliehen konnte, lebte er bis zum I. Weltkrieg zumeist in Wien. Seine Versuche, die einzelnen sozialdemokratischen Fraktionen in eine einheitliche Partei zusammenzuführen und die von ihm als verhängnisvoll angesehene Parteispaltung zu überwinden, blieben erfolglos. Während des I. Weltkrieges beteiligte sich T. von Paris aus an der internationalen sozialistischen Friedensbewegung. Nach seiner Rückkehr nach Rußland im Mai 1917 leitete er zunächst die interfraktionelle Organisation der Vereinigten Sozialdemokraten, die sogenannte Zwischengruppe, ehe er sich den Bolschewiki anschloß und in deren ZK gewählt wurde. Als Vorsitzender des von den Bolschewiki eroberten Petrograder Sowjet wurde T. bald zum wichtigsten und populärsten Repräsentanten der revolutionären Arbeiter und Soldaten, der auch die Organisation des bolschewistischen Oktoberaufstandes leitete. Auf dem II. Sowjetkongreß, der die bolschewistische Machtübernahme bestätigte, proklamierte T. den Bruch mit der sozialistischen Demokratie. Als Mitglied der Parteiführung sowie als Leiter des Außenkommissariats, des Kriegskommissariats und des Transportkommissariats nahm T., der den Zwang als wichtigstes Mittel der sozialistischen Umgestaltung betrachtete, entscheidenden Anteil an der Verschärfung der bolschewistischen Diktatur.
In den Kämpfen um die Nachfolge Lenins konnte sich T., der in der bolschewistischen Partei nur wenig verwurzelt war, nicht durchsetzen. Als Kritiker des bürokratischen Parteiregimes wurde er Führer der linken Opposition, bis er 1927 aus der KPdSU ausgeschlossen und 1929 auch aus der UdSSR ausgewiesen wurde. T. forderte vor allem eine Demokratisierung der Partei und kritisierte die zunehmende soziale Differenzierung auf dem Lande sowie die schlechte Arbeit der Industrie. Gegenüber der Stalinschen Führung betonte er auch unter veränderten politischen Bedingungen stets die Perspektive der Weltrevolution. In der Emigration, wo T. eine umfangreiche politische und literarische Tätigkeit entfaltete, entwickelte sich seine Kritik am bürokratischen sowjetischen Regime zu einer grundsätzlichen Abrechnung mit dem Stalinismus. Er kritisierte auch Stalins Haltung gegenüber dem Faschismus und erkannte klarer als viele andere Sozialisten und Kommunisten die Gefahr, die ein nationalsozialistisches Deutschland bedeutete, vermochte aber die internationale Arbeiterbewegung kaum zu beeinflussen. Auch die von T. 1938 geschaffene IV. Internationale, die auf eine neue revolutionäre Situation spekulierte, gewann keinen größeren Einfluß. 1940 wurde T. in Mexiko, seinem letzten Emigrationsaufenthalt, im Auftrag Stalins ermordet.

Filippo Turati

Turati, Filippo, 1857/Canzo—1932/Paris. Nach Mitarbeit an verschiedenen radikaldemokratischen Zeitschriften gründete T. 1889 die Sozialistische Liga in Mailand. Er betonte nachdrücklich die Notwendigkeit einer einheitlichen nationalen politischen Organisation der Arbeiterbewegung und warb dafür in der 1891 erstmals von ihm herausgegebenen Critica Sociale, lange Zeit die bedeutendste sozialistische Zeitschrift Italiens. Als es 1892 in Genua zum Zusammenschluß des ouvrieristischen Flügels der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Intelligenz zur Italienischen Arbeiterpartei kam (unter Ausschluß der anarchistischen Tradition), war T. maßgeblich beteiligt, ebenso an der — nach einem zwischenzeitlichen Verbot 1895 erfolgenden Wiedergründung als *Italienische Sozialistische Partei (PSI). Als führender Vertreter der reformistischen Fraktion des PSI bestimmte er 1900—12 weitgehend dessen politische Linie.
Nachdem T. 1917 aus der neutralistischen Position des PSI zum I. Weltkrieg ausgebrochen war und im Gegensatz zu der in dieser Zeit dominierenden maximalistischen Fraktion mit der Oktoberrevolution auch eine revolutionäre Perspektive für Italien verworfen hatte, wurde er 1922 — auf Betreiben der Kommunistischen Internationale — aus dem PSI ausgeschlossen und gründete daraufhin die Vereinigte Sozialistische Partei (PSU). Die Durchsetzung des Faschismus machte auch T. handlungsunfähig und zwang ihn 1927 zur Emigration nach Frankreich. Dort wirkte er wenig später an der Gründung der Antifaschistischen Konzentration mit und erreichte 1930 die Wiedervereinigung von PSI und PSU.

Walter Ulbricht

Ulbricht, Walter, 1893/Leipzig - 1973/Berlin (Ost), Sohn eines sozialdemokratischen Schneiders, war bereits während seiner Tischlerlehre im Vereinsleben der Arbeiterbewegung verwurzelt. Er ging zwei Jahre auf Wanderschaft, die ihn bis Venedig und in die Schweiz führte. Nach unfreiwilliger Teilnahme am I. Weltkrieg wurde er Spartakist. 1919 Gründungsmitglied der KPD in Leipzig, gab er im gleichen Jahr, 26jährig, den Beruf auf und wurde »Berufsrevolutionär«: 1921 Sekretär der KPD - Bezirksleitung Thüringen, 1923/24 Mitglied der Berliner Zentrale, 1924/25 Lenin - Schule in Moskau, illegale Arbeit und Haft in Wien, 1925 wieder Berlin, 1928—33 MdR, 1929 Bezirkssekretär in Berlin. U. war Internationalist, Verfechter der Sowjetunion und des jeweiligen Kurses der KPdSU. Er vertrat die Sozialfaschismusthese. Nach der Zerschlagung der legalen KPD durch die Nazis und der Verhaftung Thälmanns gelangte U. nach und nach an die Spitze der Partei. Seine Stärke »bestand in einer unermüdlichen Geschäftigkeit«, seine »Überlegenheit« in der »Fähigkeit, stets besser informiert zu sein als andere und viel hartnäckiger der Durchführung von Einzelheiten nachzugehen« (Wehner). Im Oktober 1933 emigrierte U. nach Paris, wo er als Mitglied der KPD - Auslandsleitung zusammen mit Pieck die Volksfrontpolitik propagierte und auch Kontakte zur SPD in Prag suchte. Die stalinistischen Säuberungen« überstand er und wurde 1938 ständiger Vertreter der KPD bei der Kommunistischen Internationale. Er rechtfertigte den Hitler - Stalin - Pakt und warnte bei dieser Gelegenheit vor »primitivem Antifaschismus«. Im Juli 1943 war U. an der Gründung des Nationalkomitees »Freies Deutschland« wesentlich beteiligt und übernahm den Vorsitz von dessen Operativer Abteilung. Am 30. April 1945 kehrte U. an der Spitze von neun weiteren Funktionären, der Gruppe Ulbricht, nach Deutschland zurück. Die Gruppe sorgte für den Aufbau eines Verwaltungsapparats und die Besetzung der Schlüsselpositionen mit Kommunisten. Nach der (offiziellen) Zulassung der KPD im Juni 1945 wurde U. stellvertretender Vorsitzender. 1950 stieg er zum Generalsekretär des ZK der SED, der »Partei neuen Typs«, auf.
Die schweren Krisen und Kämpfe nach Stalins Tod überstand er unbeschadet. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 hatte seine Position eher gestützt als geschwächt. Als 1971 E. Honecker Generalsekretär der SED wurde, blieb U. Vorsitzender des Staatsrats der DDR, dessen Kompetenzen jedoch erheblich beschnitten wurden. Er hatte bis zu seinem Tod gewisse Schwierigkeiten, die sowjetische Politik der friedlichen Koexistenz nachzuvollziehen.

Otto Wels

Wels, Otto, 1873/Berlin—1939/Paris, Sohn eines Gastwirts, lernte Tapezierer und trat nach der Wanderschaft 1894 der Berliner SPD bei. Nach der Militärdienstzeit (1895—97) in Partei und Tapezierergewerkschaft gleichermaßen aktiv, kam W. auf beiden Organisationsebenen der Arbeiterbewegung rasch voran: 1895 Vorsitzender des 5. Berliner Reichstagswahlkreises, 1901 Pressekommission des Vorwärts, 1905 Sekretär, 1906 Mitvorsitzender des Verbands der Sattler, Tapezierer und Portefeuiller, 1907 Parteisekretär für die Provinz Brandenburg (bis 1918). In allen großen Parteiauseinandersetzungen seit 1899 (Revisionismus - und Massenstreikdebatte, Vorwärts - Konflikt, Budgetfrage) ein engagierter Radikaler, der auch einem Streit mit Bebel nicht aus dem Weg ging, löste sich W. seit 1909 von der entschiedenen Linken. Die Wahl in den Reichstag (1912) und in den Parteivorstand (1913) erlebte er bereits als Vertrauensmann Eberts und, tendenziell, der Parteirechten. Im I. Weltkrieg einer der härtesten Vertreter der parteioffiziellen Burgfriedenspolitik, vertrat er in der Novemberrevolution die Mehrheitssozialdemokratie im Berliner Arbeiter - und Soldatenrat und half als Stadtkommandant von Berlin, die revolutionäre Bewegung niederzuschlagen. Als Mitglied der Nationalversammlung, MdR (1920—33) und, neben Müller, Vorsitzender der SPD ab 1919, bestimmte W. wesentlich den Parteikurs auf »Ruhe und Ordnung« und soziale Reformpolitik im Rahmen der parlamentarischen Demokratie und in Zusammenarbeit mit den bürgerlich - demokratischen Parteien. W.s Identifizierung mit der Weimarer Republik schlug sich nieder in der Initiative zur Gründung des Reichsbanners Schwarz Rot Gold (1924), der Übernahme des Vorsitzes der Eisernen Front und selbst noch in der Tolerierung der Kabinette Brüning. Höhepunkt seiner Treue zur demokratischen Verfassung war W.s Rede zur Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes in der von SA und SS »überwachten« Reichstagssitzung am 23. März 1933. Der Erhaltung der sozialdemokratischen Organisationen als vermeintlichem Bollwerk gegen den Nationalsozialismus galten 1932 W.s Bemühungen um ein geheimes Organisationssystem für den Fall eines Parteiverbots; vor und nach 1933 seine Absage an innerparteiliche Gruppenbildung; sein Austritt aus dem Büro der Sozialistischen Arbeiter - Internationale (SAI), dem er seit der Gründung angehört hatte. Im Mai 1933 verließ W auf Vorstandsbeschluß das Reich und richtete Anfang Juni in Prag die Auslandsleitung der SPD (SOPADE) ein: auch trat er, weiterhin (gemeinsam mit Vogel) Vorsitzender der SPD, dem SAI - Büro wieder bei. Unter Berufung auf das Mandat der »Treuhänderschaft« wehrte W. im Exil allen Versuchen zur Erneuerung der SPD von innen oder von außen, ebenso jeder Zusammenarbeit mit der KPD in Einheitsfront, Volksfront oder rein humanitären Organisationen. Ein erbitterter Gegner der NS - Diktatur, lehnte er die Appeasement - Politik der Mächte scharf ab. Er vertraute andererseits auf den Fortbestand »preußischer« Tugenden im Reich und die subversive Kraft der Verbreitung der »Wahrheit« über Lüge und Verbrechen des Regimes. W.s Haltung in SOPADE und SAI trug nicht wenig zur Zersplitterung der SPD bis Kriegsausbruch bei.

Clara Zetkin

Zetkin, Clara Josephine, geb. Eißner, 1857/Wiederau—1933/Archangelskoje. Proletarische und aufklärerisch - radikale Traditionen prägten schon die Kinder - und Jugendzeit z.s. Als Tochter eines Dorfschullehrers und einer in der bürgerlichen
 Frauenbewegung aktiven Mutter, die von ihrem französischen Vater, einem Professor für französische und italienische Sprache, die freiheitliche Tradition der Französischen Revolution in die Familie mitgebracht hatte, wuchs Z. in bildungsbürgerlicher Umgebung auf. Ihre Berufswahl — Besuch des Lehrerinnenseminars der Frauenrechtlerin A. Schmidt in Leipzig 1874 - 78, Hauslehrerin bis 1881 — bestätigt dies. Die ärmliche Umgebung des Weberdorfs Wiederau und die Teilnahme an sozialdemokratischen Versammlungen und Studentenzirkeln in Leipzig bildeten den proletarischen Erfahrungshintergrund der jungen Frau, die 1882 den Beruf aufgab, in dessen Ausübung sie wegen ihrer sozialistischen Anschauungen auf große Schwierigkeiten gestoßen war. Sie folgte ihrem Lebensgefährten, dem russischen Sozialisten O. Zetkin, über Zürich, wo sie in J. Mottelers illegaler Expedition des Sozialdemokrat arbeitete, nach Paris. Prägende Eindrücke vermittelte das plötzliche Exil: aktive Solidarität der russischen Exilgemeinde, materielle Not aufgrund unzureichender Beschäftigung (Übersetzungen, Deutschunterricht), intensives Studium der sozialistischen Klassiker im Kreis von Gleichgesinnten, Geburt zweier Söhne, schwere Krankheit, Tod des Lebensgefährten, den sie aus politischen Gründen nicht hatte heiraten können. Z.s politischer Aufstieg begann mit der führenden Beteiligung am Gründungskongreß der II. Internationale 1889 in Paris, auf dem sie eine stark von Bebels Die Frau und der Sozialismus beeinflußte Rede hielt, die zusammen mit ihrem Parteitagsreferat von 1896 als Grundlage der sozialdemokratischen Frauenemanzipationstheorie anzusehen ist. Grundgedanke ist die einheitliche Sicht von Frauenbefreiung und proletarischer Emanzipation, für die die soziale Revolution als unbedingte Voraussetzung postuliert wird. Von diesem revolutionären, teils auch orthodox - formelhaften Geist sind alle ihre wichtigen politisch - theoretischen Äußerungen zur Frauenfrage, zu Bildungs -, Erziehungs - und Kulturfragen geprägt. Z. arbeitete in der Folge hauptsächlich publizistisch als Redakteurin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit (1891—1917) in Stuttgart. Sie nahm bis zum Krieg an nahezu allen Parteitagen der deutschen Sozialdemokratie und allen Kongressen der II. Internationale teil, war 1895—1917 Mitglied der Kontrollkommission der SPD und leitete seit 1907 das Internationale Frauensekretariat der II. Internationale. Während des I. Weltkriegs war Z. Mitglied der Spartakusgruppe und der USPD. Wie Rosa Luxemburg, mit der sie eine enge Freundschaft verband, sah sie die Gründung der KPD 1918 als verfrüht an. 1919—24 war sie dann gewähltes Mitglied der Zentrale der KPD, 1927—29 in deren ZK. 1920—33 vertrat sie die KPD im Reichstag, lebte aber aus gesundheitlichen Gründen meist in Rußland. Führende, gerade auch repräsentative Funktionen in der Kommunistischen Internationale, deren Exekutivkomitee sie seit 1921 angehörte, konnten deren diktatorische Einstellung gegenüber der KPD nicht mildern, was mehrfach auf Z.s meist interne Kritik stieß. Die Urne mit Z.s Asche wurde 1933 an der Kremlmauer beigesetzt.

Zhou Enlai

Zhou Enlai, 1898/Shaoxing—1976/Peking, Sohn einer einflußreichen Beamten - und Gelehrtenfamilie, besuchte nach klassischen Studien verschiedene moderne Schulen, 1917—24 mehrere Jahre Werkstudent in Japan, Frankreich, England und Deutschland. Als Studentenführer beteiligte er sich 1919 an der antiimperialistischen und antifeudalistischen 4. - Mai - Bewegung, danach organisierte er in Paris die Kommunistische Jugendliga, eine Keimzelle der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Ab 1924 bekleidete Z. hohe militärische Ämter und Posten in der kommunistischen Arbeiterbewegung. Seit 1927 gehörte er dem ZK und seit 1928 dem Politbüro an; im gleichen Jahr organisierte er mehrere vergebliche Aufstandsversuche. Trotz anfänglicher Gegensätze zu Mao Zedong unterstützte er ab 1935 dessen Strategie der Dorfguerilla und ländlichen Basisgebiete. Während des II. Weltkriegs diente Z. als wichtigster Verbindungsmann zur Guomindang - Regierung und den westlichen Alliierten.
Nach Gründung der Volksrepublik China Ministerpräsident, übte er das Amt bis zu seinem Tod aus. In dieser Funktion trat er nach außen erst als Mitinitiator der afro - asiatischen Blockfreienbewegung, später als erfolgreicher Architekt der sino - amerikanischen Detente auf. Im Innern profilierte er sich vor allem als moderater Wirtschaftsführer und Verwaltungsfachmann. Z.s diplomatisches Geschick ließ ihn alle Kampagnen und Säuberungen« überleben. Der Verzicht auf eigene theoretische Beiträge befähigte ihn, die Kulturrevolution zu überdauern und später auf einen ökonomischen Wachstumskurs zurückzulenken. Dadurch geriet er in den letzten Lebensjahren in immer stärkere Konflikte mit dem linken Parteiflügel und wurde zu einer Symbolfigur der Modernisierungspolitik.