Bernstein, Eduard, 1850/Ber1in - 1932/Berlin, Begründer des Revisionismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Sein Name ist in der internationalen sozialistischen Diskussion zum Synonym für Reformsozialismus und Revisionismus geworden. B. entstammte einer liberal geprägten jüdischen Arbeiterfamilie. Er lernte Bankkaufmann und trat 1872 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP, SPD) wegen deren Eintreten gegen die Kriegspolitik Bismarcks 1870/71 bei. In der SDAP war er bald als Redner und in anderen Funktionen aktiv. Anfänglich neigte er der Sozialismustheorie E. Dührings zu, wurde aber durch die Lektüre von Engels Anti - Dühring 1879 zum überzeugten Marxisten. Kurz vor Inkrafttreten des Sozialistengesetzes ging er 1878 als Sekretär des Publizisten und ethischen Sozialisten K. Höchberg in die Schweiz. 1881 übernahm er dort die Redaktion des Zentralorgans Der Sozialdemokrat der in Deutschland verbotenen Partei. Diese Stellung nutzte B. in ständigem Kontakt mit Engels sehr wirksam, um den Einfluß des Marxismus in der Sozialdemokratie zu stärken. 1888 aus der Schweiz ausgewiesen, redigierte er den Sozialdemokrat fortan in London, arbeitete ständig an Kautskys marxistischer Theoriezeitschrift Die Neue Zeit und wurde von Engels zu einem seiner Nachlaßverwalter bestellt. Unter dem Einfluß der Fabian Society, der politischen Verhältnisse in England sowie der deutlich werdenden Kluft zwischen der marxistischen Entwicklungsprognose und der tatsächlichen Entwicklung der kapitalistischen Länder begann B. ab 1896 die Revision des Marxismus einzuleiten und eine alternative Theorie des Sozialismus zu erarbeiten. Deren Kernpunkte entfaltete er 1899 in seinem später »Bibel des Revisionismus« genannten Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie sowie in zahlreichen nachfolgenden Büchern und Aufsätzen: Die marxistische Erwartung proletarischer Verelendung, sich verschärfender Krisen, durch Kapitalkonzentration verschwindender Kleinbetriebe und Mittelschichten habe sich nicht erfüllt. Der Sozialismus könne nicht mehr als Folge eines unvermeidlichen kapitalistischen Zusammenbruchs und als Geschichtsnotwendigkeit betrachtet, sondern müsse als schrittweise Verwirklichung des Prinzips der gleichberechtigten Selbstbestimmung aller in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verstanden und realisiert werden. Daher sei nicht das vermeintliche »Endziel«, sondern die »Bewegung« für den Sozialismus ausschlaggebend. Demokratie sei zugleich Weg und Ziel des Sozialismus. Führung und Mehrheit der SPD kritisierten B.s Auffassung scharf und wiesen sie wiederholt auf Parteitagen deutlich zurück. Wegen eines Haftbefehls konnte B. erst 1901 nach Deutschland zurückkehren. Anhänger seiner Richtung in der SPD, die ihm die große Gegenspielerrolle gegen Bebel zugedacht hatten, wie Lily Braun, waren von seiner leisen, zweiflerisch - nachdenklichen Art enttäuscht. Die Rolle des großen Agitators für seine Ideen war ihm
fremd. Er begrenzte nun seine Kritik und konzentrierte Sich auf das 1902 gewonnene Reichstagsmandat (Gebiete: Steuer - und Finanzpolitik, Außenpolitik). Nach Ausbruch des I. Weltkriegs brach B. noch 1914 wegen unterschiedlicher Haltung zum Krieg mit den meisten seiner revisionistischen Freunde und kämpfte für internationale Verständigung. Er wurde 1917 Mitglied der USPD und in der Novemberrevolution Beigeordneter im Reichsschatzamt. In der Weimarer Republik war B. bis 1928 MdR, nahm Lehraufträge an der Universität Berlin wahr und publizierte, u.a. über Sozialisierung, Geschichte und Theorie des Sozialismus, die Revolution 1918. Das Görlitzer Programm der SPD von 1921 (Programme der deutschen Sozialdemokratie) hat B. stark beeinflußt. Während er Sich aus der aktiven Politik zurückzog, begann sein Sozialismusverständnis die Sozialdemokratie zunehmend zu beeinflussen und wurde nach 1945 in der SPD dominant. In seinen letzten Jahren stritt B. innerhalb der SPD für eine offene Anerkennung der deutschen Kriegsschuld, um so der Propaganda der Nationalsozialisten wirksam zu begegnen. Bescheiden und couragiert hat er der Arbeiterbewegung durch Widerspruch gegen Entwicklungen und eingeschliffene Denkgewohnheiten gedient, die er für Hindernisse auf ihrem Weg hielt. Sein Tod Ende 1932 ersparte ihm, den Triumph des von ihm leidenschaftlich bekämpften Nationalsozialismus zu erleben.
in: Thomas Meyer, Karl - Heinz Klär, Susanne Miller, Klaus Novy, Heinz Timmermann: Lexikon des Sozialismus